Oberfeldarzt a.D. Dr. Norbert Frenzel: Nukleare Risiken und Bedrohungen im Schatten des Ukraine-Krieges
Welche Folgen hat die Besetzung des ehemaligen Atomkraftwerkes in Tschernobyl? Wie real ist die Bedrohung mittels eines taktischen Nuklearschlages? Hatte der versenkte russische Raketenkreuzer „Moskwa“ unter Umständen Kernwaffen an Bord? Das sind Fragen, die die Öffentlichkeit im Verlaufe des Ukrainekrieges erschrocken und bewegt haben. Eine Öffentlichkeit, die zum großen Teil die Katastrophe von Tschernobyl und die nukleare Hyperrüstung des kalten Krieges nicht mehr selbst biographisch erfahren hat. Das Vergessen um nukleare Bedrohungen und ihre Wirkungsweisen erscheint verständlich, 36 Jahre nach Tschernobyl, 33 Jahre nach Ende des kalten Krieges – eine ganze Generation.
Dr. Norbert Frenzel, Oberfeldarzt a.D., Arzt und Nuklearchemiker, war der Einladung der Reservistenkameradschaft München-Ost gefolgt, über die nuklearen Gefahren im Zuge des Ukrainekrieges zu referieren. Dr. Frenzel leitete jahrelang die Task Force „Medizinischer A-Schutz“ an der Sanitätsakademie der Bw in München. Der Vortrag erfolgte im Anschluss an die Wahlversammlung der RK München-Ost.
Dr. Frenzel erläuterte sehr anschaulich, wie sich die Dosisleistung der Strahlung bei einem Kernwaffenfallout nach 7 Stunden auf ein Zehntel reduziert und nach 7×7 Stunden (zwei Tage) auf Hundertstel abgesunken ist (Siebener Regel). Weiterhin ist eine sich im Freien aufhaltende Person zu 100% der Strahlung exponiert, diese verringert sich bei einem Aufenthalt in einem Haus in Leichtbauweise (Holz) um 50-70%, in einem Haus in Steinbauweise bereits um 80-90%, in einem Keller und sehr großem Haus um 99%. Dies bezieht sich aber nur auf einen Aufenthalt in Entfernung von mehreren Kilometern (bei der Stärke einer Hiroshimabombe) vom Detonationspunkt, bei Wasserstoffbomben ab etwa 20 Kilometern. Erst ab dieser Entfernung gibt es überhaupt eine Überlebenschance, aber nicht im Freien. Der Referent redete nicht der Überlebbarkeit von Atomschlägen das Wort, sondern betrieb sachliche Aufklärung um den Selbstschutz.
Mittels drastischer Dokumentationsfotos belegte Dr. Frenzel die unterschiedlichsten Auswirkungen der Hitze- und radioaktiven Strahlung am Menschen. Karomuster von Bekleidungsstücken zeichneten sich an diesen Opfern ab. Bilder, die wie der heutige Sprachgebrauch ausdrückt, „schwer zu ertragen“ sind, aber im Falle von Reservisten auch zur Kenntnis genommen müssen, will man sich selbst oder andere Personen im Falle der Exposition von ABC-Angriffen schützen.
Konkret auf die Ukraine bezogen, ging Dr. Frenzel auf die Besetzung des schwer kontaminierten Geländes des Katastrophen-Kernkraftwerkes Tschernobyl seitens russischer Truppen ein. Vom zerstörten Reaktorkern ginge, aufgrund des pyroklastischer Einschlusses, keine direkte Gefahr mehr aus. Besorgniserregend war allerdings die tagelange Geiselnahme des Betriebspersonals, das etliche Systeme in Betrieb halten musste. Es mutet unfassbar an, dass russische Truppen im sogenannten „roten Wald“ bei Prypjat, benannt nach der Färbung der Kiefern direkt nach der Reaktorkatastrophe, einem der höchstkontaminierten Gebiete der Erde, Stellungen ausgehoben und wochenlang gelebt hatten.
„Wenngleich der direkte taktische Nuklearschlag in der Ukraine politisch als unwahrscheinlich einzustufen ist, so existieren doch Möglichkeiten der nuklearen Eskalation unterhalb dessen“, erklärte Dr. Frenzel. Oftmals vergessen ist die Möglichkeit der Zündung eines Nuklearsprengsatzes in stratosphärischer Höhe (z.B. über der Ostsee), der dann einen sog. nuklearen elektromagnetischen Impuls (NEMP) auslöst. Dieser zerstört alle Halbleiterbauteile mit Strukturen, die komplexer als ein Transistor sind. Damit wären sämtliche Kommunikationsmittel in dem betroffenen Radius dauerhaft unbrauchbar. Ein gewiss politisch hochschwelliges Szenario, allerdings ohne direkte Opfer von menschlichen Leben.
Im Anschluss an die interessierte Fragerunde dankte der RK-Vorsitzende Walter Patejdl dem Referenten Dr. Norbert Frenzel und freut sich zusammen mit den anwesenden Kameraden auf einen Anschlussvortrag in nicht zu ferner Zukunft.