Ypern in Nordflandern steht für Zerstörung und das massenweise sinnlose Sterben im I. Weltkrieg. Sie lag an der Westfront, die über Jahre hinweg in einem bewegungslosen Stellungskampf versank. In einem Bogen östlich der Stadt verschanzten sich die Deutschen in nur wenigen Metern Entfernung von den Soldaten des Britischen Empires. Auf wenigen Quadratkilometer wüteten die Flandernschlachten, die sich vor allem durch den ersten großangelegten Giftgaseinsatz ins Gedächtnis der Welt einbrannten. Seit über vier Jahrzehnten findet hier der Gedenkmarsch „100 Kilometer von Ypern“ statt. Tausende marschieren an drei Tagen durch die kriegsgetränkte Landschaft und ehren die Gefallenen und Opfer des Krieges. Mit dabei auch eine Abordnung der Berliner Landesgruppe.
Der Weg hinauf zum Kemmelberg ist glitschig, die typische braune Tonerde ist nach den Regenfällen in der Nacht schlammig. Unsere Stiefel versinken im Dreck, das Marschieren wird anstrengender. Ich muss an die Soldaten denken, die sich hier durch den Schlamm kämpften. Vier Jahre haben Hunderttausende in unmenschlichen Zuständen gehaust, versucht zu überleben. Die Marschstrecke führt uns an den Frontlinien vorbei, an den riesigen Soldatenfriedhöfen, an den strategisch wichtigsten Punkten der vier Flandernschlachten: „Höhe 60“, „Höhe 62“, „Te Hooge“ und Kemmelberg, den wir gerade überqueren. Trotz seiner nur 158 Meter Höhe hatte dieser Berg enorme Bedeutung: hier oben hatten die britischen Soldaten Posten bezogen, mit dem sie den gesamten Frontverlauf bei Ypern, dem sogenannten „Ypernbogen“, überblicken konnten. In der Großoffensive im Frühjahr 1918 stürmten die deutschen Truppen den Berg und hielten ihn für eine Zeit besetzt – bezahlt mit enormen Verlusten auf beiden Seiten.
Die Landschaft wirkt idyllisch, Rapsfelder blühen, südwestlich geht die flache Landschaft in eine sanfte Hügelkette über. Doch die Idylle trügt, wie so oft. Überall finden sich noch rostige Geschosse und Granathülsen, die aus den Äckern gezogen werden. Der abgelegene, kreisrunde Waldsee, den wir am dritten Marschtag streifen, ist nicht natürlich. Der riesige Krater von sicherlich 30 Meter Durchmesser wurde von einer der 17 großen Minen gesprengt, die die Allierten am 21. Mai 1917 als Auftakt ihres Vorstoßes unter den deutschen Stellungen explodieren ließen. Nur wenige Kilometer entfernt, der „Hooge Krater“, auch hier sprengten die Allierten einen riesigen Krater in die deutschen Stellungen. Heute befindet sich dort ein Privatmuseum, das auch an die weiteren unfassbaren Ereignisse an diesem Ort erinnert: an den ersten Giftgas-Einsatz am 22. April 1915, an den großflächigen Einsatz von Flammenwerfern am 29. Juli 1916 – beides durch die deutschen Truppen. Der Wahnsinn des Krieges – hier zum Greifen nah!
Knapp 100 Jahre nach den dramatischen Ereignissen in Flandern marschieren deutsche, britische und belgische Reservisten und Soldaten nicht nur gemeinsam, sie erinnern sich auch gemeinsam ihrer Gefallenen – auf dem deutschen Friedhof „Langemark“ und an der zentralen Gedenkstätte in Ypern dem „Menentor“. Beim dortigen großen Appell ist die deutsche Abordnung mit etwa 40 Reservisten selbstverständlich Teil der Formation. Die Zeremonie ist würdig und bewegend; beim Abmarsch applaudieren die Zuschauer – auch den Deutschen! Über die Jahre hinweg, haben sich enge Bande geschlossen, Berliner und englische Reservisten stehen im regelmäßigen Kontakt und besuchen sich gegenseitig. So hat sich die wichtigste Mission des Marsches erfüllt. Nach 100 Jahren wurde aus Feindschaft Freundschaft – die einzig richtige Lehre aus einer unfassbaren Tragödie!