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loyal-Titelthema der Ausgabe Oktober 2015




Zwei Soldaten ziehen in den Krieg. Was sie dort erleben, zerstört schleichend ihre Existenz. In Deutschland finden sie nicht die Hilfe, die sie bräuchten. Sie sehen nur noch einen Ausweg: Selbstmord

„Ich kann nicht mehr“

von Marco Seliger

Wenn es regnet, lässt Michael Anders die Rollläden herunter und dreht die Musik auf. Das Geräusch von plätscherndem Wasser erinnert ihn an Flüsse, in denen aufgedunsene Leichen treiben. Den Müll aus der Wohnung muss seine Lebensgefährtin zur Abfalltonne bringen. Der Geruch stürzt ihn in Panik, er hat verweste, von Kugeln durchsiebte Körper aus Müllhalden geborgen. Gebratenes Fleisch gibt es in seiner Wohnung schon lange nicht mehr. Für ihn ist der Duft aus der Pfanne ein quälender Gestank, der die Erinnerung an verkohlte Menschen hervorruft. Michael Anders war Fahrer eines Leopard-2-Panzers und einer der ersten deutschen Soldaten, die 1999 in das Kosovo einmarschiert sind. Jahrelang konnte er seine Erlebnisse verdrängen. Nun zerstören sie ihn.

Steven Drechler* liegt auf seinem Sofa, bleischwer und unfähig, einen Schritt nach draußen zu tun. Er starrt in die Dunkelheit, die Fensterläden verriegelt, die Gardinen dicht geschlossen. Wenn er nicht grübelt, spielt er auf seinem Computer „Call of duty“ und erledigt das, wofür er gedrillt wurde: den Feind töten. Der ist dabei genauso imaginär wie in Afghanistan, aber immerhin vergräbt er keine realen Bomben in den Straßen, über die Drechsler mit seinem „Dingo“ fahren muss. Es ist im März 2011, als sie sechs Kanister Sprengstoff an einer Stelle ausgraben, die Drechsler in den Stunden zuvor wieder und wieder passiert hat. Plötzlich, auf dieser Straße in Afghanistan, bekommt er Angst zu sterben. Sie lähmt seine Gedanken, seinen Schritt, seine Hände. Er hält sich für einen Versager. Schämt sich – bis heute. Damals ist er Fallschirmjäger und stolz darauf. Jetzt will er sich nur noch in seinem Zimmer vergraben. Einfach verschwinden, nichts mehr sehen, hören, sagen. Die Düsterkeit in seinem Kopf, sie beginnt kurz nach der Rückkehr aus dem Einsatz im Sommer vor vier Jahren. Seitdem peinigt sie ihn, schubweise, mal eine Woche lang, mal zwei Monate. Immer wieder.

Anfang August 1999, nach knapp acht Monaten auf dem Balkan, kehrt Michael Anders nach Augustdorf zurück. Im Gepäck hat er seine Erinnerungen und eine Menge Fotos. Sie zeigen Leichen, immer wieder Leichen. Bald darauf endet seine Dienstzeit in der 3. Kompanie des Panzerbataillons 214. Er verkauft seine Möbel, räumt sein Konto leer, schultert den Rucksack und fliegt nach Paraguay. Anders steigt aus, so wie das viele Deutsche in Südamerika tun. Ein Jahr verschwindet er, weg, ganz weit weg von dem Ort, der ihn zu einem anderen Menschen gemacht hat. Das weiß er zu diesem Zeitpunkt nur noch nicht. Seine Seele hat bereits einen Knacks, doch der wird vom aufregenden Leben am anderen Ende der Welt überlagert. Anders ist Mitte 20, es muss für ihn doch noch etwas anderes geben als Tod und Sterben.

Steven Drechsler schleppt sich durch die übrigen Einsatzmonate in Afghanistan. Es ist Frühjahr. Er funktioniert, übertüncht die Angst vor den Kameraden mit eiserner Selbstdisziplin. Sie sind gemeinsam rein, sie gehen auch gemeinsam raus. Das haben sie sich geschworen. Zurück in Lebach ist es sein Gruppenführer, dem seine Veränderung zuerst auffällt. „Geh zum Arzt, irgendwas stimmt mit dir nicht“, sagt er. Drechsler wird in eine psychiatrische Ambulanz eingewiesen. In den Bundeswehrkrankenhäusern ist kein Platz für ihn, die Stationen für Soldaten mit Seelenleiden sind überfüllt. In der Tagesklinik in Lebach wollen die Ärzte mit ihm über seine Kindheit reden, nicht über den Krieg. Er fühlt sich nicht ernst genommen und geht nach ein paar Sitzungen nicht mehr hin. Der Truppenarzt schreibt ihn zwei Wochen krank, damit er erst mal runterkommen kann, wie er Drechsler erklärt.