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Der Eisbärenwächter

Die schlechte Nachricht zuerst: Den Weihnachtsmann hat Olaf Stenzel am Nordpol nicht getroffen. Dafür hat der Reservist während der MOSAiC-Expedition in der Arktis so viele Erfahrungen gesammelt, dass er davon sein ganzes Leben lang erzählen kann. Als Polar Bear Guard hat er nicht nur aufgepasst, dass kein Forscher vom Eisbären gefressen wird, sondern hatte auch allgemein ein Auge auf die Logistik und auf die Sicherheit der Menschen auf dem Forschungsschiff Polarstern. Aber mal von Anfang an…

Olaf Stenzel für den ersten Fahrtabschnitt der MOSAiC-Expedition als Eisbärenwächter mit an Bord.

Foto: Alfred-Wegener-Institut/Esther Horvath

arktismosaic

Olaf Stenzel war zwölf Jahre lang Fallschirmjäger bei der Bundeswehr. Nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst blieb er der Truppe als Reservist treu, unter anderem sechs Jahre lang als Chef der Regionalen Sicherungs- und Unterstützungskompanie in Bremen, inzwischen umbenannt in Heimatschutzkompanie, und als gespiegelter Stabsoffizier für Reservistenangelegenheiten im Landeskommando. Zivilberuflich ist er als Waffenausbilder bei der Polizei in Bremerhaven tätig – und in dieser Funktion so gut vernetzt, dass vor fast zehn Jahren der Kontakt zum Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) zustande kam. Das Institut hat seinen Sitz ebenfalls in Bremerhaven. Das AWI arbeitet vor allem in den kalten und gemäßigten Regionen der Welt. Gemeinsam mit zahlreichen nationalen und internationalen Partnern ist das AWI daran beteiligt, die komplexen Prozesse im „System Erde“ zu entschlüsseln. Als das Institut einen neuen Ausbilder suchte, um Wissenschaftler an Waffen auszubilden, damit sie sich gegen Eisbären verteidigen können, fiel der Blick auf Stenzel. „It’s a match!“ Und zwar ein „perfect match“ wie sich später noch herausstellen sollte.

Olaf Stenzel besann sich auf das, was er bei der Bundeswehr gelernt hatte, und entwickelte eine praxisnahe Ausbildung. „Auf Spitzbergen etwa darf ich erst dann auf einen Eisbären schießen, wenn er sich auf 30 Meter nähert. Jetzt stellen Sie sich mal vor: Die Tiere laufen so schnell wie ein Pferd im Galopp. Da muss ich schnell und sicher reagieren können“, sagt Stenzel. Seine Ausbildung basierte deshalb in erster Linie auf Stressresistenz: „Die Angst überwinden, stehen bleiben, die Waffe intuitiv bedienen“, fasst Stenzel zusammen. Er ließ die Wissenschaftler erst rennen, um den Puls hochzutreiben, und anschließend die Waffe bedienen, bis sie die Handgriffe aus dem Effeff beherrschten. Dennoch: Ein Wissenschaftler ist am Ende des Tages noch immer ein Wissenschaftler, der sich auf die Forschung konzentriert. Und Stenzel ist Polizist und Reservist, der sich auf die Sicherheit konzentriert. Die besten Ergebnisse kommen dann zustande, wenn jeder das tut, was er am besten kann. „Ein Wissenschaftler guckt dann doch eher mal in das Bohrloch im Eis. Ich kann mich dann schon eher auf die Umgebung fokussieren“, weiß Stenzel. Als im Alfred-Wegener-Institut die Planungen für die MOSAiC-Expedition anliefen, wurde er schließlich als Eisbärenwache eingeplant.

Sonnenuntergang am 5. Oktober 2019. Als eine „faszinierende Einöde“ beschreibt Olaf Stenzel die Arktis. (Foto: Alfred-Wegener-Institut/Marcel Nicolaus)

MOSAiC steht für den sperrigen Begriff „Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate“ (dt.: Multidisziplinäres Driftobservatorium zur Untersuchung des Arktisklimas) und ist nach Angaben des AWI die größte Arktisexpedition aller Zeiten. Ab Herbst 2019 driftete der deutsche Forschungseisbrecher Polarstern eingefroren durch das Nordpolarmeer, den Kurs bestimmte das Eis. Wissenschaftler aus 20 Nationen erforschten dabei die Arktis im Jahresverlauf. Das Ziel: den Einfluss der Arktis auf das globale Klima besser verstehen können. Insgesamt dauerte die Expedition länger als ein Jahr. Stenzel war vorgesehen für den ersten Fahrabschnitt von September bis Dezember 2019. Bevor es losging, stand eine sehr fordernde Ausbildung an. In erster Linie ging es dabei um Sicherheit auf dem Eis und um Rettung aus dem Eis. „Sehr viel Feinausbildung und sehr spezialisiert“, erinnert sich der Reservist. Und im Fall der Fälle überlebenswichtig. „Die Rettungskette dauert 14 Tage. Von der Internationalen Raumstation bin ich schneller wieder zurück als aus der Arktis.“

Tücken der Logistik

Im September 2019 ging es schließlich los. Zunächst traf sich das komplette Team – rund 40 Besatzungsmitglieder und 60 Wissenschaftler – im norwegischen Tromsø. Dort legte die Polarstern am 20. September ab, begleitet von russischen Forschungseisbrecher Akademik Fedorov. Schon hier zeigten sich die Tücken der Logistik. Auch kleinste Details mussten in der Planung bedacht werden. „Wir hatten Survivalboxen mit dabei, haben dann aber festgestellt, dass wir keine Streichhölzer für die Notkocher hatten, die mussten dann auch noch schnell beschafft werden.“ Immerhin hatte die Crew die Mängel noch rechtzeitig festgestellt. Die Fedorov begleitete die Polarstern nur während der ersten Phase der Expedition. Danach waren die rund 100 Menschen an Bord komplett auf sich allein gestellt.

Die Route führte vorbei an Franz-Josef-Land und entlang der sibirischen Küste, bis die Schiffe bei etwa 120 Grad Ost noch weiter Richtung Norden abdrehten und sich einen Weg in das zentrale arktische Meereis suchten. „Zunächst ging es darum, eine solide und ausreichend große Eisscholle zu finden, mit der man mittreiben konnte“, berichtet Stenzel. Dieses Ziel wurde am 4. Oktober erreicht. Bei etwa 85 Grad Nord und 134 Grad Ost wurden die Maschinen der Polarstern in den Leerlauf versetzt und das Schiff ließ sich fest in das Meereis einfrieren. Ohne eigenes Zutun legte die Polarstern zwischen acht und 15 Kilometer am Tag zurück, bewegt allein von den Kräften der Natur.

Alltägliche Arbeit auf dem Eis. Immerhin: Beim vierten Fahrtabschnitt hatten die Forscher wieder Tageslicht. (Foto: Alfred-Wegener-Institut/Lianna Nixon)

Einmal in der Scholle festgefroren, gingen die Arbeiten los. „Das Zentrale Observatorium sollte stehen, solange es noch Tageslicht gab“, erinnert sich Stenzel. Bei diesem „Central Observatory“ handelte es sich um ein Forschungscamp direkt neben dem Schiff, gesichert mit einem 700 Meter langen Zaun, sollte die Station die Neugierde eines Eisbären wecken. Zeitgleich richtete die Akademik Fedorov ein Netzwerk aus kleineren Forschungs- und Beobachtungsstationen ein. Mitte Oktober fuhr die Fedorov zurück nach Tromsø und die Crew der Polarstern war endgültig allein im ewigen Eis. Am 25. Oktober ging dann auch die Sonne unter – bis zum Einsetzen der nautischen Dämmerung am 12. Februar. „Diese ewige Dunkelheit war das, was mich am meisten belastet hat“, erinnert sich Stenzel. „Da helfen auch Tageslichtlampen nicht.“

Auge auf aufbrechendes Eis

Ein geregelter Tagesablauf gab ihm die nötige Orientierung in der schier endlosen Polarnacht. Los ging es meist mit dem Frühstück um 7 Uhr morgens, danach gab es eine Besprechung mit den Wissenschaftlern und der Schiffsleitung. Von 8:30 bis 12 Uhr ging es dann raus mit den Wissenschaftlern und Ingenieuren. Stenzel passte dabei nicht nur auf, ob sich ein Eisbär nähert, sondern packte auch mit an, wenn eine zusätzliche Hand benötigt wurde, etwa wenn es darum ging, ein Kabel zu bergen oder wenn eine Messstation gewartet oder neu aufgebaut werden musste. Darüber hinaus hatte er ein Auge auf das Wetter. Zieht Nebel auf? Braut sich ein Schneesturm zusammen? Gerade in der Dunkelheit besteht dann die Gefahr, die Orientierung zu verlieren. Um sich in der Einöde zurechtzufinden, half ihm die bei der Bundeswehr gelernte „Geländetaufe“. Da wurde der eine Eishügel zum „Sofa“, der andere zum „Dreieck“. Generell brachte die Orientierung ein paar Besonderheiten mit sich. Da das Schiff mit der Eisscholle driftete, waren zur Standortbestimmung die Koordinaten auf dem Meeresgrund maßgeblich. Der Polarstern als Orientierungspunkt fiel gänzlich weg. „Der stand ja die ganze Zeit direkt über uns.“

Zudem hatte Stenzel beim „Außendienst“ stets ein Auge auf aufbrechendes Eis. „Wenn sich ein Crack auftut, ist der vielleicht nur drei Meter breit, aber ich komme nicht mehr zum Schiff zurück, weil diese Bruchstelle einfach mal 80 Kilometer lang ist“, sagt Stenzel. Nach einem energiereichen Mittagessen ging es dann nochmal raus bis etwa 18 Uhr, ehe ein Briefing für den nächsten Tag den Feierabend einläutete. „Die Tage an sich hatten schon eine Struktur und es waren rund um die Uhr Menschen unterwegs auf dem Schiff, aber irgendwann verschwimmen die Tage. Man weiß dann nicht mehr, ob gerade Montag oder Samstag ist“, erinnert sich Stenzel.

Fußballspiel bei minus 25 Grad

Für Abwechslung sorgten die Freizeitangebote an Bord, so gab es auf der Polarstern eine Sauna und ein Schwimmbecken, Sportmöglichkeiten und Spieleabende. Hin und wieder gab es besondere Events, etwa ein Grillfest oder ein Fußballspiel auf dem Eis bei minus 25 Grad Celsius. „Alle haben sehr aufeinander geachtet, Religion oder Politik spielten überhaupt keine Rolle. Es war ein Geben und Nehmen, eine ganz tolle Atmosphäre“, berichtet Stenzel. Auch mit dem Polar Bear Guard an Bord, mit dem er sich eine Kajüte teilte, verstand er sich auf Anhieb. Kein Wunder, hatten doch beide den gleichen Hintergrund. „Der war früher bei den Gebirgsjägern. Ein ganz feiner Kerl!“

Trotz der Anwesenheit von fünf Polar Bear Guards mussten die Wissenschaftler regelmäßig den Umgang mit der Waffe trainieren. Denn: War kein Guard dabei, hatten sie ein Repetiergewehr mit sich zu führen. Eine mitgebrachte Scheibe erwies sich bei rund minus 20 Grad nicht als zweckmäßig, da die Sticker zum Abkleben der Einschusslöcher nicht mehr hafteten. „Da haben wir dann einfach Schnee in Getränkekartons gefüllt und darauf geschossen“, erzählt Stenzel. Auch die Flugbahn der Projektile veränderte sich unter den extremen Bedingungen. „Aber die Waffen haben stets einwandfrei funktioniert und uns nicht im Stich gelassen!“

Verirrte Eisbären im Wissenschaftsdorf neben der Polarstern. (Foto: Alfred-Wegener-Institut/Esther Horvath)

Was bei der Schiffsleitung immer gut ankam, war sein Lagevortrag zur Unterrichtung. „Ich habe dem Fahrleiter kurz und knapp die Lage erläutert und ihm seine Handlungsoptionen aufgezeigt“, berichtet Stenzel. Aufgrund dieser Informationen konnte er dann entscheiden, ob er ein Team zurückholt aufs Schiff oder draußen lässt. Ebenso das geordnete Zurückholen der Leute, wenn sich das Wetter verschlechterte. „Da sollen halt nicht alle unkoordiniert zum Schiff zurücklaufen, sondern sich so bewegen, dass sie sich im Notfall noch unterstützen könnten“, erläutert Stenzel und schmunzelt: „Eine infanteristische Ausbildung macht sich in allen Lebenslagen bezahlt.“

Verirrte Eisbären

Nach drei Monaten ging der erste Fahrabschnitt der MOSAiC-Expedition zu Ende. Am 16. Dezember erreichte der russische Eisbrecher Kapitän Dranitsyn die Polarstern, um die rund 100 Menschen auszutauschen. Bis es das Schiff aus dem arktischen Eis geschafft hatte, vergingen jedoch mehr als zwei Wochen, so dass die Crew Weihnachten und Silvester auf der Dranitsyn verbrachten. Zurück in Deutschland, musste sich Stenzel erstmal wieder zurechtfinden. „Das Tageslicht fühlte sich sehr hell an“, erinnert sich Stenzel. „Und beim Einkaufen im Supermarkt habe ich die ganzen Gerüche viel intensiver wahrgenommen.“

Auch nach der Expedition ist Olaf Stenzel dem Alfred-Wegener-Institut erhalten geblieben. Einmal im Jahr führt er die Waffenrevision auf Spitzbergen durch und bietet jährlich sechs bis acht Schießausbildungen für die Wissenschaft an. Wenn er heute an MOSAiC zurückdenkt, erinnert er sich an die ganz besondere Stimmung an Bord, an die Bewegungen im Eis unter seinen Füßen und an diese ganz besondere, faszinierende Einöde.

Die gute Nachricht zum Schluss: Während der gesamten Expedition wurde kein Forscher vom Eisbären gefressen und niemand musste auf einen Eisbären schießen. Lediglich ein paar Mal verirrten sich Eisbären in das Wissenschaftsdorf direkt neben dem Schiff. Dem Sicherheitskonzept entsprechend kehrten die Gruppen, die sich auf dem Eis befanden, auf das Schiff zurück. Gefährdeten sich Eisbären – etwa dadurch, dass sie an Aufbauten knabberten – wurden sie vertrieben: „Wir haben Lärm gemacht und mit Signalmunition geschossen. Danach hatten die keine Lust mehr auf Menschen“, sagt Olaf Stenzel.

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