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Streitobjekt G36: Warum es nur Verlierer gibt




Das Verteidigungsministerium und der Waffenhersteller Heckler & Koch liefern sich derzeit in aller Öffentlichkeit einen heftigen Schlagabtausch. Gegenstand ist nichts weniger als die Standardwaffe der Bundeswehr, also – im Extremfall – die Lebensversicherung der Soldaten. Das G36, so lautet sinngemäß der Vorwurf des Ministeriums, schieße im heißgeschossenen Zustand unpräzise, sei daher unzuverlässig und könne sogar die eigenen Soldaten gefährden. Heckler & Koch kontert, davon könne keine Rede sein, und spricht von einer Rufmordkampagne.

von Marco Seliger

Um zu verstehen, worum es geht, hilft ein Blick zurück. Anfang der 90er Jahre, die Ära der Auslandseinsätze und der steten Budgetkürzungen bei den Streitkräften hatte gerade begonnen, entschied die Bundeswehr, das Sturmgewehr G3 nach mehr als 35 Jahren zu ersetzen. Die neue Waffe sollte leichter, handlicher und einfacher zu bedienen sein und ihr Kaliber dem in der Nato üblichen Kaliber 5.56 x 45 angepasst werden. Heckler & Koch ging mit einem Modell in die Ausschreibung, das mit gut dreieinhalb Kilogramm ein Kilogramm weniger wog als das G3 und mit dem auch ein unbegabter Schütze das Ziel leicht treffen konnte. Der Haus- und Hoflieferant der Bundeswehr bekam den Auftrag.

Die herkömmliche, offene Visierung des G3 mit Kimme und Korn wurde durch eine geschlossene ersetzt. Sie besteht aus einem Leuchtpunktvisier für Ziele in einer Entfernung von bis zu 200 Meter und aus einem Fernrohr für Ziele darüber hinaus. Das erleichterte das Treffen erheblich. Um das Gewicht der Waffe zu reduzieren, wurde der Metallanteil gegenüber dem G3 deutlich gesenkt. Aus Stahl sind nur noch der Lauf, der Verschluss, der Gaskolben, die Feder, Haltestifte und einige Kleinteile. Alle anderen Teile, also das Gehäuse und das Magazin, bestehen aus Polyamid, das mit Glasfasern verstärkt wurde. Der Kunststoff Polyamid wird beispielsweise auch bei Zahnbürsten verwendet und soll besonders widerstandsfähig, etwa gegen Korrosion, sein. Im Vergleich zu anderen Materialien wie Aluminium, die alternativ hätten verbaut werden können, ist Polyamid sehr preisgünstig, was dafür sorgte, dass ein weiteres Kriterium der Bundeswehr erfüllt wurde, der günstige Preis: Die Waffe kostete nur 1.200 D-Mark.

Aus dem jahrzehntelangen Einsatz von Polyamid in der Industrie ist bekannt, dass sich das Material schon bei geringer Hitze von circa 60 Grad Celsius verformt. Diese Temperatur wirkt auf das G36 ein, wenn die Bundeswehr in Ländern mit Wüstenklima, etwa Mali und Afghanistan, eingesetzt wird. Hohe Temperaturen entstehen zudem, wenn mit dem G36 große Munitionsmengen innerhalb kurzer Zeit verschossen werden, etwa bei Dauerfeuer oder in schnellem Einzelfeuer. Dabei erwärmt sich der Lauf auf mehrere Hundert Grad und die Hitze überträgt sich auf den umgebenden Kunststoff, dessen Festigkeit nachlässt. Untersuchungen sollen nun ergeben haben, dass das in das Kunststoffgehäuse eingebettete Rohr sein Schwingungsverhalten verändere, was den Streukreis der Waffe erhöhe. Heckler & Koch bestreitet das vehement und zieht die Untersuchungsmethoden in Zweifel.

Die Verwendung von Polyamid beim G36 war dem Verteidigungsministerium von Anfang an bekannt. Für die Beschaffung des Gewehrs zeichnete das damalige Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung (BWB), das heutige Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw), verantwortlich. Die Behörde hat das G36 vor der endgültigen Beschaffungsentscheidung auf Herz und Nieren getestet. Hätten die Verantwortlichen Zweifel an der Tauglichkeit einer größtenteils aus Kunststoff bestehenden Waffe als Sturmgewehr gehabt, so hätten sie ihn damals äußern und vom Hersteller Änderungen verlangen müssen. Das hat das BWB aber nicht getan, obwohl es deutliche Kritik vor allem aus dem Heer gab. So sprachen sich die Gebirgsjäger gegen das G36 aus, weil sie es für zu störanfällig hielten.

Die Bundeswehr bestellte also ein Gewehr mit einem Gehäuse, das aus einem Material besteht, dessen Hitzeanfälligkeit die Präzision der Waffe beeinträchtigen soll. Die Präzisionseinschränkungen sind in der Truppe aber zunächst gar nicht weiter aufgefallen. Seit Mitte der 90er Jahre haben mehrere Hunderttausend Soldaten mit dem G36 geschossen. Berichte über massive Präzisionseinschränkungen sind zumindest nicht öffentlich bekannt.

Das G36 wird bis heute von den meisten Soldaten als gute, zuverlässige Waffe beschrieben, obwohl es aus Afghanistan seit sechs Jahren vereinzelte gegenteilige Berichte gibt. Schon im Sommer 2009 äußerten Soldaten den Eindruck, das G36 habe ein Präzisionsproblem. Nach dem verlustreichen Karfreitagsgefecht ein Jahr darauf wiederholten sich diese Berichte.

Sie waren teilweise erklärbar. Die Soldaten hatten stundenlang Dauerfeuer oder im schnellen Einzelfeuer geschossen, das Sturmgewehr also wie ein Maschinengewehr eingesetzt. Dabei bleibt kein Gewehr so präzise wie im Normalzustand, denn unter den bei Dauerfeuer entstehenden hohen Temperaturen verformt sich der Lauf. Taktisch sollten Situationen, in denen sich die Soldaten gezwungen sehen, mit einem Sturmgewehr mehrere Hundert Schuss Dauerfeuer abzugeben, die Ausnahme sein. In Afghanistan trat dieser Fall dennoch einige Male auf, weil die Soldaten über zu wenige Abstandswaffen wie Maschinengewehre verfügten oder weil sie, wie am Karfreitag 2010, dazu gezwungen waren. Sie mussten damals einen Verwundeten von einem Feld bergen, das unter Taliban-Feuer lag.

Bei Maschinengewehren gilt die Regel, das Rohr nach etwa 150 Schuss zu wechseln, um einen größeren Streukreis zu vermeiden. Der Lauf von MGs besteht üblicherweise aus härterem Material als der des G36. Bei einem Sturmgewehr ist jedoch ein Rohrwechsel im Gefecht nicht möglich. Im März 2012 erkannte das Einsatzführungskommando das Problem und suchte nach einer Lösung für den Afghanistaneinsatz. Die sah dann so aus: Die Truppe sollte den Lauf des G36 nach 150 Schuss Dauerfeuer auf Handwärme abkühlen lassen, ehe sie das Gefecht fortsetzt. Ob das im Kampf tatsächlich umsetzbar ist, sei dahingestellt. Aber die Weisung beweist, dass die Bundeswehr die Präzisionsprobleme des G36 schon vor drei Jahren erkannt und anerkannt hatte.

Doch sie schickt ihre Soldaten bis heute mit dieser Waffe in die Einsatzgebiete. Das Verteidigungsministerium spricht von einer "einsatztaktischen Fähigkeitslücke". Eine Lücke, die sich mit relativ wenig Aufwand und mit geringen Kosten schnell beheben ließe. Denn das Polyamid könnte durch hitzebeständigeren Kunststoff ersetzt werden. Die Mehrkosten würden sich nach Expertenmeinung bei fünf Euro pro Gewehr bewegen. Die Bundeswehr hält etwa 170.000 G36 in ihrem Bestand.

Warum diese Maßnahme nicht längst für die im Einsatz befindlichen Waffen ergriffen wurde, wollte das Ministerium mit Verweis auf laufende Untersuchungen nicht beantworten. Heckler & Koch behauptet, der Bundeswehr mehrfach ein „kampfwertgesteigertes“ G36 angeboten zu haben, sie seien damit aber nicht durchgedrungen. Warum die Firma ihrerseits nicht die Bundeswehr deutlich auf die erheblich eingeschränkte thermische Belastbarkeit des Kunststoffgehäuses hingewiesen hat, wollte wiederum Heckler & Koch nicht beantworten. Juristisch steht hier die Frage im Raum, inwieweit der Hersteller verpflichtet ist, den Kunden über die Eigenschaften des verbauten Materials aufzuklären.

Der Streit um das G36 kennt nur Verlierer. Das Verteidigungsministerium und die Bundeswehr, weil sie zunächst nicht so genau hingesehen haben und nun mit einem Furor zur Sache gehen, dass der Eindruck entsteht, es soll von den eigenen Versäumnissen ablenkt werden. Heckler & Koch, weil der Ruf des Unternehmens schweren Schaden nimmt, ganz gleich, ob das Ausmaß der Mängel tatsächlich so groß ist, wie es das Ministerium festgestellt haben will, oder nicht. Die Heftigkeit, mit der beide Seiten aufeinander losgehen, ist beispiellos in der bundesdeutschen Rüstungsgeschichte. Ministerium und Hersteller drohen sich wechselseitig mit juristischen Folgen, kaum vorstellbar, dass sie noch zusammenarbeiten können. Müssen sie aber. Denn fast alle Handwaffen der Bundeswehr stammen von Heckler & Koch. Sie sind nicht mal eben so auszutauschen.

Bild oben:
G36 mit Zieloptik und
montiertem 40-mm-Granatwerfer.
(Foto: Heckler & Koch, aus loyal 05/15)
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