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95 Prozent Himmel, 5 Prozent Hölle

Israel lebt mit der Gefahr von Raketenangriffen. Ein hocheffizientes Frühwarn- und Abwehrsystem lässt den Alltag auch bei Attacken aus dem Gaza-Streifen fast normal weitergehen. Traumata gibt es dennoch.

Itamar Limor ist Berufssoldat in der israelischen Armee. Der Kompaniechef aus der Nahal-Brigade ist mit seinen Soldaten vier Monate lang am Nordrand des Gaza-Streifens im Einsatz.

Foto: Stephan Pramme

Blick auf Jaffa, das mit Tel Aviv zu einer Metropole zusammengewachsen ist. Der Strand ist ein beliebtes Ziel für Jung und Alt. Bei Raketenalarm wirft man sich ein Badetuch über und begibt sich in den nächstgelegenen Schutzraum.

Foto: Levi Meir Clancy / via unsplash.com

Grenzübergang Kerem Shalom, hier der Blick in Richtung der ägyptischen Grenze.

Foto: Stephan Pramme

  • Von André Uzulis (Text) und Stephan Pramme (Fotos)
  • 06.10.2022
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israelloyal

Sonntagabend in Tel Aviv im vergangenen August. In der Metropole geht ein geschäftiger Tag zu Ende. Die Straßen sind verstopft, es wird gehupt und geschimpft. Restaurants und Bars füllen sich, am Strand spielen in der beginnenden Dämmerung junge Menschen Volleyball. Dort und auch auf den Straßen wird viel Haut und noch mehr Lebensfreude gezeigt. Tel Aviv ist für seinen Hedonismus und sein Nachtleben bekannt.

Doch auf einen Schlag erstirbt die Geschäftigkeit. Sirenen heulen. Luftalarm! Die Jugend am Strand zieht sich Badetücher um die Hüften und läuft barfuß oder in Flip-Flops über den Shlomo-Lahat-Boulevard, der Strand und Hochhäuser trennt. Wer kann, verschwindet in Hotels oder Geschäften in Schutzräumen. Die anderen suchen Deckung an den Wänden der Wolkenkratzer. Zwischen den Häusern ist es leidlich sicher. Wer draußen bleibt, schaut in den wolkenlosen Himmel, der sich rötlich von der untergehenden Sonne verfärbt. Dann, plötzlich, drei Detonationen hintereinander, dumpf und schwer zu orten: Bumm. Bumm. Bumm. Danach Stille. Die Gefahr ist vorüber. Das Sirenengeheul verstummt. Die Jugend schlurft wieder an den Strand, der Verkehr setzt erneut ein. Wie bei einem Regenschauer hat man sich kurz untergestellt. Nun ist er vorbei, das Vergnügen kann weitergehen.

Doch es war kein Regenschauer. An diesem Abend hat das Flugabwehrsystem „Iron Dome“ drei Raketen aus dem Gaza-Streifen in der Luft abgefangen, die für Downtown Tel Aviv bestimmt waren. Die drei Detonationen waren Treffer der Iron-Dome-Raketen, die die Geschosse rechtzeitig vom Himmel geholt haben. Es ist nochmal gut ausgegangen, wie fast immer in diesen Fällen – bizarre Normalität in einem Land, das jahrzehntelang von Feinden umzingelt war und dem manche arabische Nachbarn immer noch das Existenzrecht absprechen. Wer heute in Israel zur Schule geht, ist mit solchen Raketenangriffen aufgewachsen und kennt es gar nicht anders, als diszipliniert den nächsten Schutzraum aufzusuchen, ein paar Minuten abzuwarten, und dann weiterzumachen, als sei nichts geschehen. So sehr Israelis im Allgemeinen auf ihre Individualität pochen, so chaotisch der Verkehr ist – so diszipliniert sind sie, wenn es um Angriffe auf ihr Land und auf ihr Leben geht.

Sirenen warnen

Zwei Tage später hat loyal die seltene Gelegenheit, mit dem Chef der Sirenen in Israel zu sprechen. Oberstleutnant Itay Zamir sitzt im Kampfanzug und mit Kippa zwischen Computerbildschirmen in einer schmucklosen Baracke in Ramla, etwa 30 Kilometer südöstlich von Tel Aviv. Die Kaserne dort gehörte früher einmal zu einem Feldflugplatz der Royal Air Force. Von hier flogen die Engländer im Zweiten Weltkrieg Luftangriffe auf die Truppen von Generalfeldmarschall Erwin Rommel. Der Tower ist mit etwas Fantasie noch zu erkennen, die Pisten sind umfunktioniert zu Straßen. Heute geht es hier nicht um Luftangriffe, sondern im Gegenteil, um deren Abwehr. Zivilschutz ist neben dem Iron Dome die zweite Säule der Sicherheitsarchitektur Israels.

Oberstleutnant Itay Zamir ist der Herr der Sirenen in Israel. In seiner Abteilung des Homefront Command in der Stadt Ramla wurde auch eine Warn-App entwickelt, die heute die am meisten heruntergeladene App auf israelischen Smartphones ist. Hier steht er in seiner Kaserne vor einem Schutzraum – einem Klotz aus Beton von der Größe eines Containers.

Zamir hat eine ganz besondere Position innerhalb der IDF. Er nennt sich „Head of Early Warning“ und gebietet über alle Sirenen in diesem Land, das so groß ist wie Hessen, von der libanesischen Grenze bis nach Eilat am Roten Meer. loyal ist eines der wenigen ausländischen Medien, die einen Einblick in diese sensible Komponente der israelischen Verteidigung bekommen. Zamir hat, man merkt es ihm an, nicht viel Erfahrung im Umgang mit Journalisten. Aber ihm steht eine umso resolutere Pressesprecherin zur Seite, die sagt, was geschrieben werden darf und was „unter drei“ bleiben muss. Die junge Frau – sie ist gerade erst 19 geworden – ist Wehrpflichtige. Wie so viele Wehrdienstleistende in Israel hat sie von Anfang an eine verantwortungsvolle Aufgabe übertragen bekommen. Sie wirkt, was hier keine Seltenheit ist, ungemein reif. Das hat etwas mit der Wehrpflicht zu tun – und mit der Bedrohung, unter der das Land seit eh und je lebt.

„1991 wurde Israel erstmals mit Raketen beschossen“, setzt Oberstleutnant Zamir an. „Der irakische Diktator Saddam Hussein feuerte im ersten Golfkrieg Raketen auf unser Territorium ab, die angeblich mit Giftgas bestückt waren.“ Das stellte sich zwar als falsch heraus, aber die 39 Scud-Raketen aus dem Irak forderten in Israel Todesopfer und richteten Sachschäden an. Zamir: „Damals gab es nur eine einzige Warnzone in Israel. Stand ein Raketenangriff bevor, heulten im ganzen Land die Sirenen. Das führte dazu, dass die Menschen leichtsinnig wurden, denn bei den meisten Alarmen geschah nichts.“

Die israelische Armee, die IDF (Israel Defense Force), zog daraus die Konsequenz, die Luftschutzzonen kleiner zu ziehen. Mit immer besserer Technik gelang es, die Flugbahn von Geschossen schneller und präziser zu analysieren. Heute ist die bewohnte Fläche Israels in weitaus mehr als 20.000 Planquadrate eingeteilt. Die genaue Zahl unterliegt der Geheimhaltung. In Sekundenbruchteilen berechnet das Abwehrsystem „Iron Dome“, wo eine abgefeuerte Rakete einschlagen würde, wenn sie nicht vorher zerstört wird. „Und nur für dieses Zielgebiet warnen wir die Bevölkerung“, sagt Oberstleutnant Zamir mit Stolz in der Stimme. „Das sind dann oft nur ein paar Straßenzüge. Wenn Sie also Sirenen hören, dann sind Sie auch gemeint“, fügt der 38-Jährige hinzu.

Sirenen sind in Israel wichtige Elemente des Zivilschutzes. Sie warnen nicht nur vor Raketenangriffen, sondern mit entsprechenden Signalen auch vor Erdbeben und Tsunamis.

Neben dem ausgefeilten Sirenensystem werden entsprechende Warnungen im Fernsehprogramm eingeblendet. Der Rundfunk meldet ebenfalls die Gefahr. Und es gibt eine Warn-App, die von Zamirs Team entwickelt wurde. Es ist die am häufigsten heruntergeladene App in Israel.

Dass Israelis bei einer Warnung auch unverzüglich und situationsangemessen reagieren, indem sie zum Beispiel den Strand verlassen, einen Schutzraum aufsuchen oder sich an Hauswänden in Deckung bringen, beruht auf einem umfassenden Bevölkerungsschutzprogramm, das ebenfalls vom Heimatschutzkommando in Ramla umgesetzt wird. Soldaten des Kommandos unterweisen schon Kinder, wie man sich bei Alarm richtig verhält. Sie gehen in Krankenhäuser, Behörden, Schulen und Kindergärten und zeigen, wie man es machen muss. Zamir: „Was nützen die lautesten Sirenen und die beste Warn-App, wenn die Menschen nicht wissen, was sie tun sollen. Warnungen und richtiges Verhalten sind zwei Seiten derselben Medaille“, so der Offizier.

90 Sekunden

Das richtige Verhalten muss im Schlaf klappen, denn die Vorwarnzeit beim möglichen Einschlag einer Rakete aus dem Gaza-Streifen beträgt in Tel Aviv oder Jerusalem ganze 90 Sekunden. Betroffene dürfen also nicht lange nachdenken. Wobei Israelis, die weiter südlich leben, in Aschdod oder Aschkelon etwa, über solche Vorwarnzeiten nur lachen können. „90 Sekunden? Da gehe ich noch duschen“, sagte ein Bewohner des südlichen Landesteils augenzwinkernd dem loyal-Reporter. In Sderot, der mit knapp 30.000 Einwohnern größten israelischen Stadt in unmittelbarer Nähe des Gaza-Streifens beträgt die Vorwarnzeit nur 15 Sekunden. Dort geht niemand duschen, wenn die Sirenen heulen. Und Sderot ist wegen seiner Nähe und Größe ein bevorzugtes Ziel für die palästinensischen Terroristen aus dem Gaza-Streifen. Früher beklagte Sderot zahllose Einschläge, viele Tote und große Schäden. Seit es den „Iron Dome“ gibt, kommt es kaum noch zu Treffern mit Todesopfern. „Der ‚Iron Dome‘ hat uns das Leben zurückgebracht“, sagt Yaheli Yatzkar, die 19 Jahre alte Bedienung im Restaurant „Hummus of the Trina“ in Sderot – und spricht für eine ganze Generation.

Der Haaretz-Journalist Nati Yefet berichtet aus der Stadt Sderot, die nahe am Gaza-Streifen liegt, und der gesamten Region. Er kennt die Sorgen und Nöte der Menschen. Seine Tochter Yaara (3) hat er zum Gespräch mit loyal mitgebracht.

Der Journalist Nati Yefet berichtet für die liberale Tageszeitung Haaretz aus der Stadt. Er wohnt in der Region und ist mit den Sorgen und Nöten der Menschen vertraut. Zum Gespräch mit loyal hat er seine dreijährige Tochter Yaara mitgebracht. Vom Café Greg am Rande eines Einkaufszentrums in Sderot schauen wir über den großen Parkplatz. Überall stehen Schutzräume aus Beton, davor sind Einkaufswagen abgestellt. „2021, während der letzten großen Raketenkampagne aus dem Gaza-Streifen, war dieser Parkplatz voller Übertragungswagen. Journalisten aus aller Welt berichteten live von hier. Sderot liegt schon wirklich sehr nah an Gaza…“, sagte Yefet.

Damals gab es zwei Einschläge in der Stadt. „Der ‚Iron Dome‘ ist sehr effizient, er vernichtet 90 Prozent der Raketen, bevor sie Schaden anrichten können.“ Dennoch habe die ständige Bedrohung Menschen krank gemacht. „In der Region gibt es 23 Therapeuten, die auf Posttraumatische Störungen spezialisiert sind. Nach einem Einschlag ist innerhalb einer halben Stunde ein Akut-Team da und betreut die Betroffenen psychologisch. Spezialisierte Teams kümmern sich um die Kinder, denn die leiden unter den Angriffen besonders“, sagt Yefet und blickt liebevoll auf seine Tochter Yaara, die an einem iPad daddelt. „Kinder können leicht traumatisiert werden, manche von ihnen leiden ein ganzes Leben unter dem, was sie erlebt haben“, fügt der Haaretz-Journalist hinzu.

Sderot ist eine wachsende Stadt – obwohl die Vorwarnzeit bei Raketenangriffen nur 15 Sekunden beträgt. In Sderot sind im Gegensatz zu Tel Aviv oder Jerusalem Immobilien noch bezahlbar. Das zieht vor allem junge Familien an. Überall entstehen Appartmentblöcke oder ganze Einfamilienhaussiedlungen.

Trotz der Bedrohung – oder gerade weil das israelische Abwehrsystem recht gut funktioniert – ist Sderot eine wachsende Stadt. Die Bevölkerungszahl ist in den vergangenen drei Jahren um rund 3.000 gestiegen. Überall wird gebaut – Einfamilienhäuser oder großzügige Appartmentkomplexe. Gerade junge Familien, die sich in Zentralisrael zwischen Tel Aviv und Jerusalem angesichts der exorbitanten Immobilienpreise kein Eigentum leisten können, kommen hierher an den Rand der Negev-Wüste und verwirklichen sich ihren Traum vom Häuschen.

Noch näher an Gaza leben die rund 500 Bewohner des Kibbuz Nahal Oz. Der Kibbuz grenzt direkt an den Zaun zu Gaza. Gaza-Stadt ist gerade mal 800 Meter entfernt. In Nahal Oz lebt seit 65 Jahren die inzwischen 84 Jahre alte Tami Halevi. Ihre Eltern waren 1934 gerade noch rechtzeitig vor den Nazis aus Deutschland geflohen und nach Palästina eingewandert. Die Witwe wohnt in einem schmucken Häuschen inmitten eines grünen Gartens im Kibbuz und freut sich, dass sie mit den loyal-Reportern in ihrer ersten Muttersprache, auf Deutsch, sprechen kann. Viel Gelegenheit hat sie dazu in diesem abgelegenen Winkel Israels nicht; kaum ein Ausländer kommt hierher.

Auf ihrer Terrasse erzählt sie von ihren Aktivitäten und denen ihres verstorbenen Mannes in der israelischen Friedensbewegung. „Wir waren viele Jahre lang engagiert. Wir wissen, dass es den allermeisten Menschen da drüben so geht wie uns: Sie wollen Frieden.“ Sie deutet mit dem Daumen über ihre Schulter, Richtung Gaza. An ihrer Überzeugung, dass eigentlich alle Frieden wollen, hat auch die Tatsache nichts geändert, dass in den vergangenen Jahren mehrere Tausend Raketen aus dem Gaza-Streifen über ihr Haus, über ihren Kibbuz hinweggeflogen sind. „Einige sind auch bei uns eingeschlagen, einige haben hier Menschen getötet, ein kleines Kind war unter den Opfern“, erinnert sich die alte Dame.

Tami Halevi lebt seit 65 Jahren im Kibbuz Nahal Oz, der direkt an den Gaza-Streifen grenzt. Die Tochter jüdischer Emigranten aus Nazi-Deutschland hat in ihrem Leben Tausende palästinensische Raketen über ihr Haus fliegen sehen.

Seit mehr als 20 Jahren gibt es in Israel die Vorschrift, dass jede Wohnung, jedes Haus mit einem Schutzraum ausgestattet sein muss. So auch das Haus von Tami Halevi. Sie beugt sich vor, als wolle sie etwas Vertrauliches sagen: „Und wissen Sie was? Die Fenster meines Schutzraums hier hat ein Palästinenser aus Gaza eingebaut.“ Wieder deutet sie mit dem Daumen über die Schulter.

Während die Vorwarnzeit im wenige Kilometer entfernten Sderot eine Viertelminute beträgt, sind es im Kibbuz Nahal Oz nur drei, vier Sekunden – maximal. Tami Halevi sagt: „Bei Raketenalarm lassen wir alle unsere Haustüren offen. Nein, nicht wegen einer möglichen Druckwelle, sondern für den Fall, dass ein Nachbar seinen eigenen Schutzraum nicht mehr erreicht. Wenn die Türen auf sind, kann er sich ins nächstbeste Haus retten.“

Tami Halevi verzweifelt manchmal an dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern: „Wenn unsere Luftwaffe Ziele im Gaza-Streifen bombardiert, sagt sie dort vorher Bescheid, damit sich die Menschen in Sicherheit bringen können. Wenn die Terroristen uns mit Raketen beschießen, sagen sie niemandem Bescheid.“ Die Tochter jüdischer Emigranten aus Deutschland und ehemalige Friedensaktivistin fügt mit fester Stimme hinzu: „Das hier ist jüdisches Land. Die islamistischen Terroristen wollen uns von hier vertreiben. Das lassen wir nicht zu.“ Nichts würde sie gegen das Leben in diesem Kibbuz tauschen. „Wir haben hier 95 Prozent Himmel und 5 Prozent Hölle“, stellt die alte Dame im Hinblick auf das Leben allgemein und die Raketenangriffe im Speziellen fest.

Radikale Islamisten

Regierungs- und Sicherheitskreise in Israel waren von den jüngsten Raketenangriffen im August überrascht, denn die gingen erstmals nicht von der den Gaza-Streifen regierenden Hamas aus, sondern vom Islamischen Dschihad (PIJ), einer noch radikaleren Splittergruppe, die aus dem Iran unterstützt wird. Der israelische Geheimdienst verfügte über Informationen, wonach PIJ-Kämpfer aus dem Gaza-Streifen Angriffe mit Panzerabwehrwaffen auf zivile Ziele in Israel verüben wollten. Daraufhin flog die israelische Luftwaffe gezielte Angriffe auf die PIJ-Spitze und tötete deren Militärchef Taisir al-Dschabari. Als Reaktion feuerte die PIJ mehrere Hundert Raketen Richtung Israel ab, von denen nach Angaben von Israels Militärsprecher Richard Hecht etwa ein Drittel als Irrläufer innerhalb des Gaza-Streifens landeten. Das israelische Militär rief die „Operation Morgendämmerung“ aus und beschoss seinerseits Ziele im Gaza-Streifen. Nach drei Tagen trat ein von Ägypten vermittelter Waffenstillstand in Kraft.

Zwischen Israel und dem Gaza-Streifen gibt es zwei Grenzübergänge: Erez für Personen sowie Kerem Schalom (Foto) für Waren. Unmittelbar nach dem Waffenstillstand im August rollten wieder Lastwagen mit Gütern über die Grenze in das Palästinensergebiet.

Bemerkenswert an dieser jüngsten Eskalation war, dass sich die Hamas nicht an den Auseinandersetzungen beteiligte. Der Islamische Dschihad ist eine von zwei radikalen Splittergruppen im Gaza-Streifen, sogar die weniger wichtige. Andererseits hat die Hamas auch nichts unternommen, um die Angriffsvorbereitungen der PIJ zu unterbinden. Die Hamas, die 2007 die Macht im Gaza-Streifen an sich gerissen hat, ist inzwischen de facto zu einem Partner der Israelis geworden, um die Lage im komplett land- und seeseitig abgeriegelten Gaza-Streifen unter Kontrolle zu halten. Schon am Tag nach Inkrafttreten des Waffenstillstands am 8. August wurden am einzigen Grenzübergangspunkt für Güter, Kerem Schalom im Dreieck Ägypten/Gaza-Streifen/Israel wieder die Warenlieferungen in den Gaza-Streifen aufgenommen. loyal war an dem Tag dort und beobachtete Lastwagen, die die schwer gesicherte Grenze passierten.

Israel gewährt täglich rund 14.000 Palästinensern aus dem Gaza-Streifen die Einreise nach Israel, um dort zu arbeiten. Diese vom damaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennet geförderte vorsichtige Öffnung gegenüber der Hamas setzt sein Nachfolger Jair Lapid fort. In Israel wird am 1. November ein neues Parlament gewählt. Lapids Chancen bei dieser Wahl könnten durch die konsequente militärische Reaktion der israelischen Armee auf die Anschlagspläne der Gaza-Dschihadisten gestiegen sein. Eine harte Hand in Sicherheitsfragen war stets die Voraussetzung für eine politische Karriere in Israel. Lapid, der eine Mitte-Links-Koalition führt, verfügt aber über keinen nennenswerten persönlichen militärischen Hintergrund. Das ließ ihn der langjährige konservative Ministerpräsident und heutige Oppositionsführer Benjamin Netanjahu, ein ehemaliger Offizier und Haudegen, spüren: Netanjahu wollte sich bislang von Lapid nicht in militärischen Dingen unterrichten lassen und blieb entsprechenden Einladungen ostentativ fern. Das hat sich mit der „Operation Morgendämmerung“ geändert. Netanjahu holte sich erstmals ein Briefing bei Lapid ab und zeigte damit, dass er ihn als politischen Gegner womöglich doch ernst nimmt.

Informationen aus Gaza

Die Frage, wie die Israelis an die exzellenten Informationen kommen, die ihnen erlauben, präventiv eine islamistische Splittergruppe wie die PIJ mit einem Präzisionsschlag zu enthaupten, bevor diese Attentate in Israel verüben kann, hat loyal einem der bekanntesten Soldaten Israels gestellt: dem früheren Brigadegeneral Dr. Ephraim Lapid, weder verwandt noch verschwägert mit dem gleichnamigen Ministerpräsidenten. Ephraim Lapid war jahrzehntelang im militärischen Nachrichtenwesen tätig und verfügt immer noch über beste Kontakte. Mit 80 Jahren macht er sogar noch Wehrübungen. Er sagt: „Es gibt immer Palästinenser, die mit ihrer politischen Führung unzufrieden sind. Es gibt Palästinenser, die eine Arbeitsgenehmigung in Israel haben wollen. Oder jene, die einfach Geld brauchen. Es ist die Kunst eines Geheimdienstes, diese zu identifizieren und für die eigene Sache zu gewinnen.“ Israel war mit der Anwerbung von Agenten immer wieder höchst erfolgreich. Einer der spektakulärsten Fälle war der Schwiegersohn des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser, Ashraf Marwan (1944-2007), der für den Mossad arbeitete und 1973 die Israelis vor dem Jom-Kippur-Krieg warnte.

Ephraim Lapid war sein halbes Soldatenleben lang Nachrichtenoffizier. Der pensionierte Brigadegeneral absolviert auch mit 80 Jahren noch regelmäßig Wehrübungen.

Entlang der Grenze zum Gaza-Streifen hängen Prallluftschiffe, sogenannte Blimps, in der Luft, bestückt mit Gondeln und allerlei Aufklärungstechnik. „Wir hören täglich die Handys von einer Million Palästinensern ab und werten via Künstlicher Intelligenz Tag für Tag 30 Millionen Informationen aus“, erklärt Lapid. Bei dieser elektronischen Aufklärung sei es die Kunst, aus dem Informationsrauschen jene Fakten herauszufiltern, die relevant sind, um dann rechtzeitig zuzuschlagen, bevor etwas passiert.

Der Grenzstreifen zwischen Israel und Gaza ist wohl einer der ödesten Orte der Welt. Kritiker sprechen von Gaza als dem größten Gefängnis der Welt. Mehr als zwei Millionen Menschen leben in dem Rechteck zwischen Israel, Ägypten und dem Mittelmeer. Zäune, Mauern, Sand und Hitze prägen die Grenzsituation. Jeweils vier Monate lang tun hier IDF-Soldaten aus dem Landesinnern Dienst. Zur Zeit der Attacken aus dem Gaza-Streifen im August hatten Major Itamar Limor und seine Kompanie von der Nahal-Brigade aus der Nähe von Netanja Dienst am nördlichen Abschnitt. loyal begleitet Limor auf einer Patrouillenfahrt in dieser Wüstenei. Er berichtet, dass er bei den ersten Raketenangriffen auf Israel den Befehl bekommen hatte, sich und seine Leute sofort zurückzuziehen. „Wir wollen hier keine Ziele darstellen“, sagt er.

loyal-Chefredakteur André Uzulis im Gespräch mit Major Itamar Limor bei einer Patrouille am nördlichen Grenzabschnitt zum Gaza-Streifen.

loyal hat die Palästinensische Vertretung in Berlin um eine Stellungnahme zu dem Raketenbeschuss Israels gebeten. Die zweimal gestellte Anfrage blieb unbeantwortet. Auch auf der Homepage der Vertretung findet sich keine Erklärung dazu.

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