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Utopieüberschuss und Wirkungsdefizit

Fast 20 Jahre lang hat sich Deutschland militärisch in Afghanistan engagiert. Mit der Machtüber­nahme durch die Taliban im Sommer 2021 brach das westliche Engagement in sich zusammen. Die Politik arbeitet die Geschehnisse jetzt auf. Ob auch Lehren gezogen werden, ist indes fraglich.

2001 wurden sie vertrieben, 2021 kamen sie zurück: Die Taliban sind die alten und neuen Herrscher in Afghanistan. Nach der Rückeroberung des Landes durch die Gotteskrieger fürchten zurückgelassene Ortskräfte der westlichen Truppen um ihr Leben.

Foto: Felipe Dana/AP

Afghanistanloyal

Yama Rahman hatte es fast geschafft. Er stand im August 2021 wenige Meter vor dem Tor des Flughafens von Kabul. Rund um ihn war Chaos. Menschen drängten sich vor dem Zaun. Die Masse wogte hin und wogte her, manche drohten zerquetscht zu werden. Panik lag in der Luft, Warnschüsse waren zu hören. Frauen weinten, Männer schrien. Soldaten aus NATO-Ländern versuchten, die Zugänge zum Vorfeld des Airports zu sichern. Ihnen stand die Anspannung in den verschwitzten Gesichtern. Einem von ihnen zeigte Rahman seine Papiere. Der Soldat warf einen Blick darauf und schüttelte den Kopf. Für Rahman gab es keinen Durchgang. Der Weg zu den wartenden Militärmaschinen hinter dem Zaun war ihm und seiner Familie versperrt. Er sah sich am Ende.

So schildert es der heute 38-Jährige im Gespräch mit loyal. Yama Rahman hatte mehr als sechs Jahre für den Westen in Afghanistan gearbeitet, von März 2015 bis Juni 2021. Der studierte Journalist war im Medienzentrum der Afghanischen Nationalarmee in Masar-e-Scharif tätig, in der Abteilung Medienanalyse. Er wertete Propagandabotschaften aus, die die Taliban verbreiteten, stellte Dossiers über die Einstellung der afghanischen Bevölkerung zusammen. Seine Erkenntnisse nutzte auch die Bundeswehr. Das Medienzentrum informierte umgekehrt die afghanische Öffentlichkeit über die Tätigkeit der Armee und der westlichen Truppen und versuchte, sie für sich zu gewinnen. Klassische PsyOps-Arbeit, beraten durch die Bundeswehr.

Die Afghanen, die im Medienzentrum in Masar-e-Scharif arbeiteten, sind für die Taliban Verräter. Viele von ihnen stehen auf Todeslisten. Yama Rahman bekam das zu spüren, als eines Nachts auf sein Haus in Masar-e-Scharif ein Anschlag verübt wurde. Verletzt wurde niemand, es entstand Sachschaden. Aber die Botschaft war klar: Warte nur, bis wir dich und deine Familie in die Finger kriegen. Rahman berichtet auch von Handwerkern, die bei ihm in der Wohnung Arbeiten erledigten. Einer von ihnen machte besorgniserregende Andeutungen. Für Rahman war klar, dass er im Falle eines Abzugs der westlichen Truppen Freiwild sein würde. Er und seine Familie. Wobei die Taliban einen Familienbegriff haben, der weit über das deutsche Bild der Kleinfamilie von Vater, Mutter und Kindern hinausgeht.

Ortskraft zweiter Klasse

Dann kam der Zusammenbruch der westlichen Mission. Rahman wollte das Land verlassen. Da ahnte er noch nicht, dass er Ortskraft zweiter Klasse war. Er reiste mit Ehefrau Farangis (heute 38) und den Kindern Yosra (heute 11), Khadeja (9), Yaser (7) und Nesthäkchen Asuda (4) mit dem Bus ins 500 Kilometer entfernte Kabul. Papiere hatte er dabei, aber sie berechtigten ihn nicht zur Ausreise. Die Zurückweisung am Flughafenzaun traf ihn wie ein Schlag. „Das ist das Todesurteil“, dachte Rahman – und bestieg voller Bedrückung vor dem, was nun kommen würde, mit seiner Familie einen Bus zurück nach Masar-e-Scharif.

Yama Rahman arbeitete als Ortskraft für das Medienzentrum der Afghanischen Nationalarmee in Masar-e-Scharif. Erst nachdem sich Bundeswehroffiziere für ihn eingesetzt hatten, konnte er auf abenteuerliche Art und Weise Afghanistan verlassen. Rahman lebt heute mit seiner Frau und den vier Kindern in Deutschland. (Foto: privat)

Die Taliban überrannten das Land, auch Masar-e-Scharif fiel, und Familie Rahman zog in der Stadt von einem Safe House zum nächsten, voller Angst vor dem nächsten Tag, vor der nächsten Nacht. Es gelang ihnen, sich fünf Monate lang vor den Rächern der Taliban zu verstecken. In der Zwischenzeit hatten sich Bundeswehroffiziere für die Familie stark gemacht, die durchs Raster des Ortskräfteverfahrens gefallen war. Die Soldaten schrieben Brandbriefe an deutsche Politiker und Behörden – und endlich gelang es ihnen, Familie Rahman nach Deutschland zu holen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion bestieg Yama Rahman mit seiner Frau und den vier Kindern im Januar 2022 einen Bus, der sie nach Pakistan brachte. Dort konnte er sein Visum für Deutschland abholen und in die Freiheit reisen. Heute lebt die Familie in einem Dorf bei Siegen. Die Kinder gehen zur Schule oder in den Kindergarten und haben innerhalb eines Jahres Deutsch gelernt. Yama Rahman hat gerade den Sprachtest Niveau B1 absolviert. Er weiß, dass er nicht in seine Heimat zurückkann, solange dort die Taliban herrschen. Er wäre sofort ein toter Mann. In Deutschland möchte er gerne wieder als Medienanalyst arbeiten, sobald seine Deutschkenntnisse das zulassen.

Rund 1.800 Ortskräfte arbeiteten in Afghanistan für die Bundeswehr, davon sind inzwischen etwa 80 Prozent in Deutschland. Doch es gibt viel mehr Fälle – wie dem von Yama Rahman. Es sind Menschen, die formell keinen Vertrag mit der Bundeswehr hatten, aber dennoch den deutschen Streitkräften zuarbeiteten. Yama Rahman hatte einen Arbeitsvertrag mit dem von der Afghanischen Nationalarmee betriebenen Medienzentrum, das aber von Deutschland finanziert wurde und von dessen Arbeit die Bundeswehr profitierte. Solche Menschen galten lange nicht als Ortskraft. Wenn sie wie Yama Rahman dennoch nach Deutschland kommen konnten, ist das oft dem beherzten Auftreten einzelner Bundeswehrangehöriger oder Unterstützer-Netzwerken zu verdanken. Eine unbekannte Zahl solcher Ortskräfte sitzt jedoch nach wie vor in Afghanistan fest. Für manche käme jetzt die Hilfe womöglich zu spät, weil die Taliban mit ihnen bereits kurzen Prozess gemacht haben.

Ortskräfte-Problematik ist Thema im Untersuchungsausschuss

Die Ortskräfte-Problematik ist Thema im Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Bundestags, der seit vergangenem Herbst die Geschehnisse rund um den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan aufarbeiten soll. Sein Vorsitzender, der SPD-Politiker Ralf Stegner, spricht gegenüber .loyal von einer „fordernden Aufgabe – nicht nur was das Ausmaß an Akten und Vorgängen angeht“. Denn aufzuarbeiten gibt es wahrlich einiges.

SPD, Grüne und FDP hatten im Koalitionsvertrag vereinbart, den unrühmlichen Schlussakt des Afghanistan-Einsatzes in einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu sezieren. Ein Untersuchungsausschuss ist das schärfste Schwert des Parlamentarismus. Normalerweise setzt die Opposition ihn nach einem Fehlverhalten der Regierung durch und versucht, einen Minister zum Rücktritt zu zwingen. Beim Thema Afghanistan liegt der Fall anders. Nach der Bundestagswahl 2021 haben die Ressorts gewechselt, die damalige Regierung sitzt jetzt zum Teil in der Opposition, die damalige Opposition ist heute teilweise in Regierungsverantwortung. Interessen überkreuzen sich, handelnde Personen sind nicht mehr im Amt.

Vorsitzender Ralf Stegner will im Untersuchungsausschuss Fehleinschätzungen und Verantwortlichkeiten benennen. (Foto: picture alliance/dpa)

Ausschussvorsitzender Stegner verlangt dennoch Rechenschaft: „Es geht um Fehleinschätzungen und um Verantwortung. Glauben Sie nicht, dass es alle gut finden, wenn wir herausarbeiten, was herausgearbeitet werden muss“, gibt sich Stegner kämpferisch. „Ich habe der Bundesregierung gesagt, dass es in ihrem Interesse ist – zumal neue Amtsinhaber da sind. Wer also den Unmut nicht auf sich selber ziehen möchte, der ist klug beraten, zu kooperieren.“ Und er fügt hinzu: „Wir können nach einem so langen Einsatz nicht einfach wegschauen, nur weil nun anderswo die Musik spielt.“

Alexander Müller, Obmann der FDP, nimmt eine „komplexe Gefechtslage“ im Ausschuss wahr. „Grüne, Linke, AfD und FDP haben nichts zu verlieren“, sagt er gegenüber loyal. Alle diese Parteien waren zum Ende des Afghanistan-Einsatzes in der Opposition. Anders Union und SPD, die damals in der Großen Koalition Regierungsverantwortung trugen. Müller sieht die Befragungen von Zeugen zwar nicht parteipolitisch geprägt, aber er sagt auch: „Es gibt Unterschiede, worauf der Fokus der Befragungen liegen soll. Man merkt an den Formulierungen der Fragen, ob die jeweilige Partei ernsthaft nachbohren möchte oder ob sie Gefälligkeitsfragen stellt.“

Erndl sieht starkes Interesse an Aufklärung

Thomas Erndl, Stellvertreter des Präsidenten des Reservistenverbands, sitzt für die CSU in dem Gremium. Es ist sein erster Untersuchungsausschuss als Bundestagsabgeordneter, und auch er spürt, dass dieser Ausschuss etwas Besonderes ist: „Es ist ungewöhnlich, dass wir kein politisches Motiv haben, einem Minister ans Schienbein zu treten. Durch die ungewöhnliche Konstellation ist ein starkes Interesse an Aufklärung vorhanden.“ Als Ziele des Ausschusses nennt Erndl im Gespräch mit .loyal: „Wir wollen feststellen, wo etwas nicht gut lief und daraus Schlüsse für die Zukunft ziehen, um es besser zu machen.“ Bis zur Bundestagswahl 2025 soll der Ausschuss einen Bericht vorlegen, der dann im Bundestag diskutiert werden kann.

Einstweilen hat den Ausschuss die Ortskräfte-Frage stark beschäftigt. Das Thema interessiert besonders die Grünen und die Linkspartei. Für Robin Wagener, Obmann der Grünen im Ausschuss, lautet die Kernfrage, warum so spät mit Evakuierungen begonnen wurde. „Schon im Frühjahr 2020 gab es Geheimdiensterkenntnisse, dass es zu einer Neuauflage des Emirats, also zur Rückkehr der Taliban, kommen konnte.“ Warum also wurde nicht eher gehandelt? Wagener möchte geklärt wissen, wann wem welche Informationen zur Lage vorgelegen haben, warum mit der Evakuierung gefährdeter Personen nicht früher begonnen wurde und welche Prozesse während der Evakuierung hätten anders laufen müssen. Für seine Parteifreundin Sara Nanni ist die Ortskräfte-Frage eng mit der Bundeswehr verbunden. Nanni fährt gegenüber .loyal scharfe Geschütze gegen Union und SPD auf: „Die damalige Bundesregierung hatte nicht nur ein Loyalitätsproblem mit den Ortskräften, sondern auch mit der Bundeswehr.“ Denn es seien Soldaten gewesen, die die Menschen herausholen mussten; das Zögern bei der regulären Ausreise habe dazu geführt, dass ein gefährlicher Evakuierungseinsatz nötig wurde. Nanni: „Wir können froh sein, dass niemand ums Leben gekommen ist.“

Zu ersten Erkenntnissen ist bereits die Linkspartei gekommen. Deren Obfrau Clara Bünger zu .loyal: „Ich finde die Idee gut, Ortskräften von vorneherein ein Visum zu geben. Man muss Verantwortung für diese Menschen übernehmen. Unsere Strukturen sind zu bürokratisch, Aufnahmezeitfenster sind nicht wahrgenommen worden.“ .loyal wollte auch den AfD-Obmann im Ausschuss zu seiner Position befragen, doch Stefan Keuter erschien nicht zum verabredeten Telefoninterviewtermin und meldete sich auch auf Nachfrage nicht.

Enquete-Kommission analysiert den Einsatz

Während sich der Untersuchungsausschuss nur auf den letzten Teil des Afghanistan-Engagements bezieht, nimmt die ebenfalls im vergangenen Jahr eingesetzte Enquete-Kommission des Bundestags die gesamten fast 20 Jahre in den Blick. Anders als im Ausschuss dürfen hier auch Nichtparlamentarier als Sachverständige mit gleichen Rechten mitwirken. Für den Militärhistoriker Sönke Neitzel, der nicht Teil der Kommission ist, ist die Riege der Sachverständigen exzellent besetzt. Dies gilt für ihn allerdings nicht für die politische Seite. „Da sitzen Abgeordnete aus der zweiten Reihe, von denen noch niemand damit aufgefallen ist, sich mit Außen- und Sicherheitspolitik beschäftigen“, kritisiert Neitzel im Gespräch mit .loyal.

Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags besteht aus Abgeordneten und Sachverständigen. Ihr Vorsitzender Michael Müller (erste Reihe, mit rosafarbener Krawatte) sagt: „Es geht darum, aus Afghanistan zu lernen.“ (Foto: picture alliance/dpa)

Einer der hochkarätigen Sachverständigen ist der frühere NATO-General Egon Ramms. Der heute 74-Jährige war Befehlshaber des Allied Joint Force Command der NATO in Brunssum und damit über mehrere Jahre operativer Führer des Afghanistan-Einsatzes und als solcher Vorgesetzter von insgesamt fünf ISAF-Kommandeuren. Ramms hielt sich selbst 21 Mal in Afghanistan auf. Sein Blick endete nicht am Horizont des deutschen Kontingents, sondern er schaute durch die internationale NATO-Brille auf den gesamten Einsatz in dem Land.

„Herausfinden, wo wir falsch abgebogen sind“

Gegenüber .loyal sagte Ramms, es gehe nach seinem Eindruck bei der Enquete-Kommission „noch nicht in die richtige Richtung“. So gebe es unter den Abgeordneten in der Kommission einerseits und zwischen den Abgeordneten und den Sachverständigen andererseits durchaus unterschiedliche Interessenlagen. Er betont, dass er dies mit aller Vorsicht sage und auch nicht konkreter werden möchte. Er könne noch nicht beurteilen, wie sich die Arbeit der Kommission weiterentwickelt.

Die Aufgabe der Kommission sieht Ramms jedenfalls darin, herauszufinden, „wo wir zwischen 2001 und 2021 falsch abgebogen sind“. Eine falsche Weichenstellung sieht er schon 2001, „als wir dachten, wir könnten in Afghanistan eine Demokratie aufbauen“. Die Tatsache, dass auf der Afghanistan-Konferenz auf dem Bonner Petersberg 2001, mit der die Unterstützung für das Land begann, die Taliban nicht teilnehmen durften, sei ein weiterer Fehler gewesen. Und auch darin sieht Ramms Fehlentscheidungen: Deutschland habe bei der Aufstandsbekämpfung nicht so mitgezogen, wie die NATO sich das vorgestellt hatte und schon 2011 seinen Personalaufwuchs wieder zurückgenommen. „In der Zeit hätten wir genügend Soldaten gehabt, um in Afghanistan an die Bevölkerung heranzukommen, die wir verloren hatten“, so Ramms. Im Hinblick auf den Rückbau der Regionalkommandos kommt der frühere Vier-Sterne-General zu dem Schluss: „Wir haben uns zu schnell vom Acker gemacht.“

Im August 2021 spielten sich vor dem Zaun des Flughafens in Kabul dramatische Szenen ab. Viele Ortskräfte, die für die westlichen Streitkräfte gearbeitet hatten, versuchten vor den Taliban zu fliehen. Vielen gelang es nicht. (Foto: Victor Mancilla/U.S. Marine Corps)

Die Bundeswehr selbst hat sich nach seiner Einschätzung in den Jahren in Afghanistan allerdings stark weiterentwickelt. „Sie hat gelernt, sich auch in einem widrigen Umfeld zu bewähren.“ Allerdings: „Die Soldaten hatten in Afghanistan nicht die richtige Rückkopplung von der Politik und der Gesellschaft bekommen“, lautet Ramms’ Urteil. Dem stimmt Bernhard Drescher, Präsident des Bundes Deutscher Einsatzveteranen, zu: „Für viele Soldaten ist der Einsatz in Afghanistan das große Drama ihres Lebens. Sie brauchen Antworten, um den Sinn zu begreifen, warum sie dort waren“, sagt Drescher, der nicht als Sachverständiger in die Kommission eingeladen wurde. Er hätte sich gewünscht, „dass der gesellschaftliche Aspekt des Einsatzes parallel zu den Gremien in einer öffentlichen Debatte transparent erörtert wird – auch, um mit der Gesellschaft über den Sinn und Zweck des militärischen Einsatzes ins Gespräch zu kommen, gerade vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs.“

„Lernverweigerung in der Politik“

Der Afghanistan-Experte und frühere Grünen-Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei sieht ein generelles Versäumnis darin, dass nicht frühzeitig eine Evaluierung des Einsatzes vorgenommen wurde. „Es gab eine ausdrückliche Lernverweigerung in der Politik“, urteilt Nachtwei im Gespräch mit .loyal. „Der Einsatz ist im Großen gescheitert. Deshalb ist es das Mindeste, dass wir daraus lernen.“ Als Sachverständiger will Nachtwei, dem die Bundeswehr immer noch am Herzen liegt, in der Enquete-Kommission seinen Beitrag leisten. Wohl kaum ein Grüner seiner Generation hatte sich als aktiver Politiker stärker mit den Streitkräften identifiziert und Afghanistan zu einem politischen Lebensthema gemacht.

Das Foto des US-Militärtransporters, um den sich am Flughafen Kabul im August 2021 Hunderte Zivilisten drängen, ist zum Symbol für das chaotische Ende des westlichen Einsatzes in Afghanistan geworden. (Foto: picture alliance/AP)

Der Kommissionsvorsitzende Michael Müller, bis 2021 Regierender Bürgermeister von Berlin, betont gegenüber .loyal, dass sich sein Gremium anders als der Untersuchungsausschuss nicht mit persönlichen Verantwortlichkeiten beschäftigt, sondern „mit einem größeren Bild“. Es gehe darum, aus Afghanistan zu lernen. „Die vielen Krisen auf der Welt werden dazu führen, dass Deutschland sich auch militärisch stärker wird engagieren müssen. Darauf müssen wir besser vorbereitet sein.“ Hier könne, so Müller, die Kommission einen bedeutenden Beitrag leisten.

Den erhofft sich auch Militärhistoriker Sönke Neitzel als Wissenschaftler. Das Thema Lessons learned treibt ihn genauso um wie den Grünen Winfried Nachtwei. Neitzel zu loyal: „Ziehen wir aus Afghanistan wirklich Schlussfolgerungen? Nach meiner Erfahrung geht die Lernfähigkeit, was Auslandseinsätze betrifft, gegen null.“ Ob Untersuchungsausschuss oder Enquete-Kommission daran etwas ändern, wird sich zeigen. Neitzel sieht im internationalen Engagement der Bundeswehr ganz andere Motive als die, die öffentlich genannt werden: „Es geht bei Auslandseinsätzen viel um Innenpolitik und nicht so sehr um die Situation vor Ort. In Afghanistan gab es von deutscher Seite einen Utopieüberschuss und ein Wirkungsdefizit. Es ging nie darum, dass man vor Ort etwas erreichen konnte. Es ging um Bündnistreue. Das ist aktuell in Mali genauso. Hauptsache wir sind dabei und erfüllen das Mandat.“

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