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Corona – Ein Virus raubt der Welt den Atem

Der Ernstfall ist da. Auslöser ist ein Gegner, mit dem man nicht gerechnet hat. Wir sind verletzlich. Für die Zukunft werden wir vieles ändern müssen. Das Coronavirus zeigt die Schwächen der deutschen Krisenvorsorge. Der Mangel an Schutzausrüstung war absehbar. Gehandelt wurde nicht – wider besseren Wissens.

Symbolbild.

Quelle: Fusion Medical Animation via unsplash.com

coronaviruscovid-19

Ein verheerendes Virus hat Deutschland 2007 heimgesucht. Durch eine katastrophale Grippeepidemie kommen 102.000 Menschen ums Leben, 370.000 Infizierte müssen stationär behandelt werden, 27 Millionen Menschen erkranken – also fast jeder dritte Einwohner der Bundesrepublik. Die deutschen Arztpraxen werden wegen der Grippefälle 13 Millionen Mal aufgesucht.

So sah im November 2007 das Szenario der Zivilschutzübung Lükex aus, die alle zwei Jahre in Deutschland stattfindet. Lükex steht für „Länder- und ressortübergreifende Krisenmanagementübung“. Bei der zweitägigen Übung ging es damals um eine Influenza-Pandemie. Das zugrunde liegende Szenario mit mehr als hunderttausend Toten wurde als „mittelschwer“ bezeichnet.

Das Thema Pandemie beschäftigte die Bundesregierung aber nicht nur einmal in den vergangenen Jahren. Gut fünf Jahre nach der Lükex-Übung ging die Regierung in einer Risikoanalyse vom 3. Januar 2013 (Bundestags-Drucksache 17/12051; PDF-Download) der Frage nach, was wohl passiert, wenn Deutschland von einem neuartigen Coronavirus heimgesucht würde. Das Szenario war noch erschreckender als bei Lükex – und derart nah an dem, was wir gerade erleben, dass es sich geradezu wie ein Drehbuch der aktuellen Situation liest, auch wenn in dem Szenario von einer deutlich größeren Opferzahl ausgegangen wird als sie sich bislang real abzeichnet.

Szenario nah dran an der heutigen Realität

Und so sah die Annahme 2013 aus: Der aus Südostasien stammende Erreger, der ursprünglich bei Wildtieren vorkommt, springt Anfang Februar auf einem asiatischen Markt auf Menschen über. Die ersten Fälle in Deutschland treten wenig später bei Reisenden auf, die sich in Südostasien angesteckt haben. Eine infizierte Person besucht eine Messe „in einer norddeutschen Großstadt“, die zweite ist Student „in einer süddeutschen Universitätsstadt“.

Ausgehend von diesen beiden Fällen breitet sich das Virus rasend schnell aus, jeder Infizierte steckt zunächst durchschnittlich drei weitere, später aufgrund von Gegenmaßnahmen wie Isolierung und Quarantäne 1,6 weitere Menschen an. Es gibt kein Medikament und keinen Impfstoff, die Bevölkerung ist nicht immun. Acht Prozent der Gesamtbevölkerung erkranken gleichzeitig. Von den Erkrankten stirbt jeder Zehnte. Die Pandemie zieht in drei Wellen innerhalb von drei Jahren über Deutschland hinweg. „Mindestens 7,5 Millionen“ Menschen sterben als direkte Folge der Infektion, so wird es im Szenario angenommen. Hinzu kommt eine ungenannte Zahl weiterer Opfer, weil das Gesundheitssystem heillos überfordert ist und die Betroffenen keine medizinische Versorgung oder Pflege erhalten. Erst nach 36 Monaten ist ein Impfstoff verfügbar.

So wie es heute auch geschieht, geht die Bundesregierung in diesem Szenario von Einschränkungen der Grundrechte (Unverletzlichkeit der Wohnung, Freiheit der Person, Versammlungsfreiheit) aus, um die Pandemie einzudämmen. Die Behörden sind angehalten, diese Maßnahmen um- und durchzusetzen. Die Herausforderungen seien groß bis kaum zu bewältigen, heißt es weiter. „Dies gilt sowohl im Hinblick auf die personellen und materiellen Ressourcen als auch in Bezug auf die Durchsetzbarkeit behördlicher Maßnahmen.“

Wirtschaftliche Folge nur oberflächlich behandelt

Die wirtschaftlichen Folgen werden in der Analyse von 2013 nur oberflächlich behandelt, jedoch gehen die Autoren von „einem hohen Einbruch des Bruttoinlandsprodukts“ und „massiven Kosten für die öffentliche Hand“ aus. „Durch den Ausfall von Wirtschaftsleistung sind geringere Steuereinnahmen zu erwarten. Dies führt in Verbindung mit dem Anstieg der Gesundheitskosten voraussichtlich zu einer erheblichen Belastung der Sozialversicherungssysteme, vor allem der gesetzlichen Krankenversicherung.“ Die Auswirkungen der Pandemie auf die Gesellschaft „sind allerdings nur schwer abzuschätzen“, so die weitere Einschätzung. Es hänge vom Verhalten der Behörden und ihrer Kommunikation ab, wie sich die Bevölkerung verhalten werde. Die Autoren des Szenarios sprechen von „gegenseitiger Unterstützung und Rücksichtnahme“ der Menschen, schließen aber „aggressives und antisoziales Verhalten“ auch nicht aus.

Bunker und Behelfskrankenhäuser waren das Rückgrat der Krisenvorsorge in den 1970er und 1980er Jahren. Der Regierungsbunker
im Ahrtal war eine der geheimsten Anlagen ihrer Art in der alten Bundesrepublik. (Foto: pcpanik/wikimedia)

Präzise beschreiben die Autoren die Auswirkungen der Pandemie auf die medizinische Versorgung: „Die personellen und materiellen Kapazitäten reichen bei weitem nicht aus, um die gewohnte Versorgung aufrecht zu erhalten. (…) Der überwiegende Teil der Erkrankten kann somit nicht adäquat versorgt werden.“ Im Gesundheitsbereich komme es zu „überdurchschnittlich hohen Personalausfällen bei gleichzeitig deutlich erhöhtem Personalbedarf“. Schließlich: „Arzneimittel, Medizinprodukte, persönliche Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel werden verstärkt nachgefragt. Da Krankenhäuser, Arztpraxen und Behörden in der Regel auf schnelle Nachlieferung angewiesen sind, die Industrie die Nachfrage (aber) nicht mehr vollständig bedienen kann, entstehen Engpässe.“

Soweit also das Szenario, das die Bundesregierung 2013 für eine Corona-Pandemie angenommen hat. Wer das vor dem Hintergrund dessen liest, was sich seit Wochen in Deutschland und der Welt abspielt, fragt sich, warum zwischen 2013 und 2020 offensichtlich kaum etwas getan wurde, um sich auf eine solche Pandemie vorzubereiten, wenn doch die Verantwortlichen sich sehr genau ausmalten, was auf sie zukommen könnte. Vielleicht, weil die Autoren das Szenario lediglich als „bedingt wahrscheinlich“ bezeichneten? Es sei ein Ereignis, das „statistisch in der Regel einmal in einem Zeitraum von 100 bis 1000 Jahren eintritt“, heißt es. Doch mit Corona und Covid-19 trat dieses Ereignis exakt sieben Jahre später ein. Es ist so eine Sache mit der statistischen Wahrscheinlichkeit.

Der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, der die Regierungsanalyse von 2013 kennen dürfte, hielt jedenfalls noch am 27. Januar im ZDF die Gefahr durch das Corona-Virus für „sehr gering“ und Deutschland für „absolut gut vorbereitet“. Da hatte China die betroffene Provinz Hubei mit 60 Millionen Einwohnern bereits seit vier Tagen abgeriegelt. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte zur selben Zeit, dass der Krankheitsverlauf beim Coronavirus milder sei als etwa bei einer Grippe. „Bei einer Grippe, wenn sie schwer verläuft, sterben in Deutschland bis zu 20.000 Menschen im Jahr.“ Schnell rückten Spahn und Wieler von diesen scheinbar beruhigenden Einschätzungen ab. Inzwischen ist das Land, ist ganz Europa in einer Situation, wie es sie nie vorher gegeben hat. Es stellt sich die Frage, ob man sich – ausgehend von der Lükex-Übung 2007 und der Risikoeinschätzung 2013 – nicht besser hätte vorbereiten müssen und können. Die Antwort lautet: Ja.

Früher waren wir mal vorbereitet

Es gab Zeiten, in denen die Daseinsvorsorge für Krisensituationen in Deutschland einen hohen Stellenwert hatte. Bis vor 30 Jahren war in der alten Bundesrepublik alles für den Fall geregelt, sollte es zu einem Krieg mit dem Warschauer Pakt kommen. Es gab Bunker für die Bevölkerung – wenig genug, aber es gab sie. Getreide und Konserven wurden in geheimen Depots für den Ernstfall gelagert. 5000 Notbrunnen hätten die Bevölkerung mit Wasser versorgt. Die Industrie hätte Mineralöl aus geschützten Tanklagern erhalten. Ein flächendeckendes Sirenennetz hätte vor Gefahren gewarnt.

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Die Friedensdividende nach der Wiedervereinigung 1989/90 und nach dem Zerfall des Warschauer Pakts führte dazu, dass praktisch nichts mehr von alledem vorhanden ist. Als Folge der Entspannung der 90er Jahre wurden Kompetenzen des Zivilschutzes auf die Kommunen und dort den Feuerwehren übertragen. 2007 entschied der Bund, die Versorgung seiner Bürger mit Schutzplätzen nicht mehr weiter zu verfolgen. 2016 wurde die Zivilschutzbindung der letzten verbliebenen Bunker aufgehoben. Heute sind die meisten dieser Anlagen entweder verfallen oder in einem derart schlechten Zustand, dass sie für ihren ursprünglichen Zweck nicht mehr zu gebrauchen sind.

Dass andere Länder nicht so leichtsinnig sind, zeigt die Schweiz: Dort ist der Schutzraumbau immer noch Pflicht. Schutzräume gehören in der Schweiz zum Alltag wie das Wohnzimmer oder die Küche. Die Formel lautet: für jeden Bürger einen Schutzraum in unmittelbarer Nähe. Jeder Neubau muss zwingend Schutzräume aufweisen. Dies führt dazu, dass die Schweiz heute mehr Schutzräume für ihre Bürger vorhält als sie Einwohner hat.

Warnungen gab es von fachkundiger Seite

Wenn die deutsche Politik schon von keinem Kriegsszenario mehr ausging – man fragt sich, wie viel Wunschdenken dahinter steckte und wie wenig ein realistischer Blick auf die Welt – so hätte sie zumindest Krisen aller Art und Naturkatastrophen berücksichtigen müssen. In einer Anhörung des Bundestags-Innenausschusses warnten Experten noch im Januar dieses Jahres vor Defiziten im Bevölkerungsschutz. Der ehemalige Präsident des Technischen Hilfswerks (THW), Albrecht Broemme, der wenige Wochen später auf dem Berliner Messegelände ein Corona-Lazarett aufbauen sollte, wies vor allem auf eine „eskalierende“ Erkrankungswelle als eine realistische Bedrohung hin. Die Abwehr einer Pandemie sei die Schwachstelle des deutschen Zivilschutzes, ebenso wie die Reaktionsfähigkeit auf einen möglichen Angriff mit ABC-Waffen. Broemme sagte dies zu einem Zeitpunkt, als in China schon das Vorspiel zum weltweiten Corona-Drama lief.

Der Katastrophenschutz-Beauftragte des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), Frank Jörres, rief den Innenausschuss dazu auf, „Bevölkerungsschutz neu zu denken“. Hierzu gehöre es, Vorsorgestrukturen auszubauen und das Ehrenamt zu stärken. „Wir müssen die Krise ständig mitdenken“, mahnte Jörres. Und der ehemalige Präsident des Deutschen Feuerwehrverbandes, Helmut Ziebs, machte auf erhebliche Defizite in der Bevorratung mit Lebensmitteln und Ausrüstungsgegenständen aufmerksam.

Aus Übungen wurde nichts gelernt

Wenn die Politiker die Ergebnisberichte ihrer eigenen Lükex-Übung von 2007 und ihre eigene Risikoanalyse von 2013 gelesen hätten, hätte es den in den vergangenen Wochen eklatanten Mangel an Schutzmasken und Schutzkleidung in Deutschland nicht geben dürfen. Diese Nachlässigkeit gefährdet medizinisches Personal in Krankenhäusern und Arztpraxen und Pflegerinnen und Pfleger in Altenheimen. Hier hätte unbedingt eine strategische Reserve angelegt werden müssen. Man fragt sich, wozu Ministerien und Behörden Übungen wie Lükex durchführen, wenn daraus keine Schlüsse gezogen werden. Friedensdividende, Sorglosigkeit, Wunschdenken, Primat der Ökonomie und unpopuläre Ausgaben haben sich hier offensichtlich zu einer Haltung verfestigt, die mit Blauäugigkeit nur unzureichend beschrieben werden kann.

Vor allem der weit verbreitete Spar- und Effizienzdruck konterkariert eine angemessene Vorsorge für den Notfall. Der Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Christoph Unger, kritisierte bei der Anhörung des Innenausschusses im Januar Tendenzen, durch politische Entscheidungen den Zivilschutz zu untergraben. Ausdrücklich nannte er hier den Abbau von Krankenhauskapazitäten. In Krankenhäusern haben heute die Betriebswirte das Sagen. Und die denken an Kosten und Rendite, nicht aber an Daseinsvorsorge. Das wäre Aufgabe der Politik; sie müsste hier klar Position beziehen.

Medizinisches Personal übernimmt am Flughafen Hamburg die gelandeten Corona-Patienten aus Italien für den Weitertransport in ein Bundeswehrkrankenhaus. (Foto: Bundeswehr/Herholt)

Die Gütersloher Bertelsmann-Stiftung, die immer wieder ungefragt die Politik mit Studien zu allen möglichen Themen vor sich herzutreiben versucht, hatte im Juli 2019 tagelang mit der Forderung nach einer Verringerung der Zahl der Krankenhäuser in Deutschland Schlagzeilen gemacht. „Eine bessere Versorgung ist nur mit halb so vielen Kliniken möglich“, lautet noch heute der Artikel zu der Studie auf der Website der Stiftung. Von derzeit 1.400 auf sage und schreibe nur noch 600 wollten die Krankenhausexperten der Stiftung die Zahl der Kliniken herunterfahren. Aus heutiger Sicht in einer Zeit der Krise, in der überall Bettenkapazitäten hochgefahren und vor allem Intensivstationen erweitert werden, mutet diese Forderung geradezu absurd an.

Im Kalten Krieg hatte die Bundeswehr die Fähigkeit, in kürzester Zeit nicht weniger als 220 Behelfskrankenhäuser einzurichten. Heute: keine. Dennoch ist die Bundeswehr in der Corona-Pandemie unverzichtbarer Unterstützer und leistet mit mehr als 15.000 hoch engagierten Soldaten, darunter viele Reservisten, Amtshilfe – vom Betrieb von Corona-Teststationen über die Nachverfolgung von Infektionsketten bis hin zum Transport schwer erkrankter Corona-Patienten aus Italien und Frankreich in deutsche Krankenhäuser.

Es ist schon jetzt der größte Einsatz der Bundeswehr im Innern. Die personell klamme Truppe ist damit an der Grenze des Leistbaren, denn ihre normalen Aufgaben – Landes- und Bündnisverteidigung sowie die Auslands-einsätze – gehen ja weiter. Schon diese Aufgaben sind aufgrund der nicht ausreichenden Personaltiefe schwer zu stemmen. Die Krise offenbart jetzt mit voller Wucht, dass die Aussetzung der Wehrpflicht im Juli 2011 ein Fehler war. Wie dringend bräuchte man jetzt Wehrpflichtige in der Truppe und Zivildienstleistende im Gesundheitswesen und in der Pflege.

Mariensoldaten kaufen für Risikogruppen und ältere Menschen in Wilhelmshaven während der Corona-Pandemie ein. (Foto: Bundeswehr/Weber)

Deutschland ist – auch das zeigt die Corona-Krise – trotz aller Defizite im Vergleich zu anderen Staaten insgesamt immer noch gut aufgestellt. Zu dieser Einschätzung kommt Matthias Rogg vom Bundeswehr-Thinktank GIDS (German Institute for Defence and Strategic Studies) in Hamburg. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass wir es aktuell nur mit einer Krise zu tun haben, so schwer diese auch sein mag. Es könnte schlimmer sein. Deutschland hat eine „stabile, erfahrene und vor allem handlungsfähige Regierung, die gerade jetzt hohes Vertrauen genießt“, stellt Rogg fest. Weitere Vorteile: eine funktionierende Verwaltung, ein exzellentes Gesundheits- und ein hervorragendes Sozialsystem sowie volle öffentliche Kassen. „Unser Land genießt mit gutem Grund höchste Bonität an den internationalen Finanzmärkten und verfügt deshalb über finanzielle Möglichkeiten, die jetzt schnelles und wirksames Handeln ermöglichen. Hier ist Deutschland strategisch hervorragend aufgestellt“, so der Leiter der Steuergruppe Denkfabrik an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.


Kommentar: Wachsam sein

von loyal-Chefredakteur Dr. André Uzulis

Deutschland hat lange geglaubt, dass nie wieder etwas passieren würde. Das war ein Fehler. Wir müssen aus ihm lernen. Im Jahr 1992 erschien ein Buch von Francis Fukuyama unter dem Titel „Das Ende der Geschichte“. Der amerikanische Politikwissenschaftler postuliert darin die These, dass sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR nunmehr endgültig eine Weltordnung durchsetzen werde, in der die Prinzipien der liberalen Demokratie und der Marktwirtschaft gelten. Fukuyama hat sich geirrt, wie wir wissen.

Sein Buch war charakteristisch für eine Haltung, die sich nach der deutschen Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges rasch verbreitete: dass alle weltpolitischen Gefahren beseitigt seien und ein ewiges Zeitalter des Friedens und der wirtschaftlichen Prosperität angebrochen sei. Man strich die Friedensdividende ein und konnte sich nicht mehr vorstellen, dass irgendetwas passieren würde.

In Deutschland wurde der Zivilschutz heruntergefahren, es wurden Sirenen abgebaut, man ließ Bunker verrotten. Die Bundeswehr wurde mehr als halbiert und bis unter ihre Einsatzfähigkeit kaputtgespart. 2011 wurde schließlich die Wehrpflicht ausgesetzt. Alles nicht mehr nötig. Dachte man.

Diese Einschätzung war nicht nur naiv, sondern gefährlich. Schon drei Jahre nach Aussetzung der Wehrpflicht geschah 2014 etwas, das sich niemand mehr hatte vorstellen konnte: In Europa wurden Grenzen mit Waffengewalt verändert, wurde ein Gebiet von der Größe Brandenburgs einfach einem Staat entrissen. Die Einverleibung der zur Ukraine gehörenden Krim in die Russische Föderation stellte einen für unmöglich gehaltenen völkerrechtswidrigen Präzedenzfall dar. Der Historiker Heinrich August Winkler spricht von einem Ereignis, dem spätere Generationen vermutlich den Rang einer weltgeschichtlichen Zäsur zuerkennen werden. Der Westen wurde nicht nur überrascht, er sah auch keine Möglichkeit, darauf adäquat zu reagieren. Heute ist der Raub der Krim in Deutschland fast vergessen. Wenn überhaupt, ist er höchstens noch ein Ärgernis auf dem Weg zu einer „Normalisierung“ der Beziehungen zu Russland.

Während die Annexion der Krim in Deutschland mehr oder weniger nur eine kleine Schicht politisch wacher Menschen interessierte, betrifft die aktuelle Corona-Krise ausnahmslos uns alle. Dass eine organische Struktur, mit 140 Nanometer deutlich kleiner als ein Bakterium und noch nicht einmal ein Lebewesen, Gesellschaft und Wirtschaft lahmlegen würde, war so undenkbar wie Russlands gewaltsames Vorgehen in der Ukraine. Und doch ist beides geschehen. Auch beim Corona-Virus waren wir vollkommen unvorbereitet. Und das, obwohl die Behörden genau ein solches Szenario theoretisch durchgespielt hatten. Es wurden keine Schlüsse aus den Übungen und Lageeinschätzungen gezogen.

Wenn uns Corona eines lehrt, dann dies: das Ende der Geschichte ich noch nicht gekommen. Ob Pandemien oder militärische Bedrohungen – wir müssen wieder wachsam werden. Wir brauchen wieder einen Bevölkerungsschutz, der diesen Namen verdient. Es muss Vorsorge getroffen werden. Strategische Reserven sind notwendig. Wenn Corona bewältigt ist, sollte vernünftigerweise auch wieder über einen Vorschlag nachgedacht werden, den der Reservistenverband schon seit geraumer Zeit unterstützt: die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht. Sie würde nicht nur in künftigen Krisen helfen, sondern auch in normalen Zeiten an die Verantwortung des Einzelnen für sein Gemeinwesen erinnern.

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