Sicherheitspolitischer Informationsabend in Münster
„Wie ticken die Russen?“ So lautete der Titel eines sehr lebendigen Informationsabends in der Rüstkammer des Münsteraner Rathauses, zu dem der Landesbeauftragte für Sicherheitspolitik Major d. R. Dr. Torsten Porsch und der Beauftragte der Kreisgruppe Münster Gefreiter d. R. Jürgen Dreifke fast 100 Zuhörer begrüßen konnten. Oberst i. G. Jörn Lehmann präsentierte in einem sehr farbigen Vortrag seine Erfahrungen als Absolvent der Akademie des Generalstabes der Streitkräfte der russischen Föderation, als Luftwaffenattaché in Moskau und Rüstungsinspektor des Zentrums für Verifikation in den zurückliegenden Jahren. Schon vor dem Vortrag erhielten die Gäste durch eine Filmreportage von den offiziellen Paraden am 9. Mai eine eindrucksvolle Einstimmung auf die für das nationale russische Selbstverständnis immer noch unverzichtbare Erinnerung an den Sieg im II. Weltkrieg. Den Kriegsveteranen und der Seniorengeneration gilt hoher Respekt. Dabei hat sich aber das Bild von den Deutschen seit der Ostpolitik der 70er Jahre sehr verändert. Lehmann konnte von vielen herzlichen Begegnungen bei den Traditionsveranstaltungen berichten, wenn er als deutscher Offizier mit dem gebotenen Respekt und angemessenen militärischen Umgangsformen dort auftrat: "Ich konnte mich ohne Einschränkungen in deutscher Uniform in Moskau bewegt." Mit Fotos belegte der Referent das große Interesse russischer Bürgern an Kontakten mit den Deutschen in Uniform.
Russen schätzen Angela Merkel und loben die geordneten Verhältnisse in Deutschland. Sie befassen sich auch mit den militärischen Leistungen. Viele Offiziere haben während ihrer Dienstzeit in der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland positive Eindrücke mitgenommen. Bei der Beisetzung des letzten Befehlshabers dieser Truppen, Generaloberst Burlakow, sorgte das Protokoll für eine angemessene Platzierung des Kranzes mit der schwarz-rot-goldenen Schleife und Oberst Lehmann gehörte zum kleinen Kreis der Grabredner. Der Referent berichtete auch von den seit 1995 wachsenden Aktivitäten des Volksbundes bei der Bergung und Umbettung der deutschen Kriegstoten.
Lehmann verschwieg die Probleme des russischen Alltages nicht. Anders als im Westen schätzt man in Russland autoritäre Strukturen, um das riesige Land zusammenzuhalten und die latente Gefahr des Abgleitens in anarchische Strukturen zu beherrschen. Einen Einblick in das sehr unterwickelte Regelbewusstsein vermittelte Zahlen und Bilder aus dem Straßenverkehr. Russland muss 30.000 Verkehrstote pro Jahr beklagen. Schockierend ist auch die Geringschätzung einfacher Soldaten in den Streitkräften mit 3000 Toten pro Jahr. In der Diskussionsrunde wurde Oberst Lehmann natürlich auf Bedrohungsrisiken angesprochen. Als Rüstungsinspekteur hatte er zahlreiche Einblicke in die Fortschritte der russischen Militärreform gewonnen, die durch Ablösung der Großformationen durch Brigadeverbände und technische Modernisierung mehr Effizienz erzielt habe. Ein schnelle Militäraktion gegen das Baltikum hätte hohe Erfolgsaussichten, Russland habe aber kein Interesse an einer großen Konfrontation mit der NATO und die russischen Minderheiten schätzen mittlerweile den Lebensstandard in den baltischen Staaten höher als die Zugehörigkeit zu Russland. Bei der Bewertung der Krimokkupation verwies Lehmann auf die zwielichtige Rolle der ukrainischen Sicherheitskräfte. Die Bevölkerung auf der Krim wurde mit großen Versprechungen zur Verbesserung des Lebensstandards als Teil der russischen Föderation gewonnen, was die Russen mangels einer direkten Landverbindung nur mit einem hohen Aufwand sicherstellen könnten.
Lehmann äußerte Verständnis für das Sicherheitsbedürfnis der neuen osteuropäischen NATO-Mitglieder und die begrenzten militärischen NATO-Aktivitäten, die sich im Rahmen der mit Russland geschlossenen Abkommen bewegen. 1991 konnte der Westen den Verzicht auf eine Erweiterung des Bündnisses nicht versprechen, da man noch mit der Sowjetunion verhandelte und von deren territorialem Weiterbestand ausgehen musste.
Text: Jürgen Dreifke