Keine Zeit für Ausreden: Wehrpflicht jetzt!
Der Krieg in der Ukraine, die Gefahr des russischen Aggressors und die disruptive Sicherheitspolitik der USA unter Präsident Donald Trump – Deutschland schlafwandelt gesellschaftspolitisch durch die Zeitenwende. Das sagen Christian Frick, Referent im Bundesministerium der Verteidigung und Luftwaffen-Offizier Martin P. Haese, Doktorand in Politikwissenschaften*.
Sie haben sich gefragt, wie die Bundeswehr den derzeit zahlenmäßig zu kleinen und überalterten Personalkörper vergrößern kann, um die NATO-Vorgabe von 460.000 Soldatinnen und Soldaten erreichen zu können. Dies sei nur möglich, wenn das Personal aus einem großen Pool von Wehrdienstleistenden sowie einsatzbereiten Reservisten rekrutiert werden kann. Wie könnte ein neuer Wehrdienst also aussehen?
Klar ist, es darf keine Rückkehr zur Wehrpflicht vor der Aussetzung im Jahr 2011 geben. Damals herrschte schlichtweg keine Wehrgerechtigkeit mehr. Nur ein kleiner Anteil der wehrpflichtigen jungen Männer mit deutscher Staatsbürgerschaft wurde noch zum Wehrdienst oder Ersatzdienst eingezogen. Zudem existierte keine echte Wahlfreiheit zwischen Wehr- oder Ersatzdienst. Wer letzteren erreichen wollte, musste den umständlichen Weg der Kriegsdienstverweigerung gehen. Derjenige, der anstelle des Wehrdienstes ersatzweise einen anderen Dienst leisten will, sollte dies ohne bürokratische Hürden tun können.
Personelle Basis für eine kriegstüchtige Bundeswehr
Das von Verteidigungsminister Boris Pistorius im Jahr 2024 vorangetriebene neue Wehrdienstmodell orientiert sich am Vorbild der wiedereingeführten Wehrpflicht der schwedischen Streitkräfte (das sogenannte schwedisches Modell) und verfolgt zwei Intentionen: Abgesehen von den zunächst avisierten 5.000 zusätzlichen Wehrpflichtigen im Jahr 2025 sollen bis zum Ende des Jahrzehnts die benötigten Strukturen geschaffen werden, dass perspektivisch zusätzlich bis zu 15.000 junge Menschen pro Jahr Wehrdienst leisten können. Dieser organische Aufwuchs würde zumindest kurzfristig einen personellen Anstieg des Pools aus potenziellen Reservisten erstmalig seit der Aussetzung der Wehrpflicht ermöglichen. Mittel- bis langfristig könnte die Bundeswehr mehr ehemalige Soldaten außerhalb der ausgeschiedenen Zeitsoldaten gewinnen und so die selbstgesetzte Zielmarke von 200.000 regelmäßig übenden und beorderten Reservisten erreichen.
Mit den rund 200.000 aktiven Zeit- und Berufssoldaten sollte damit die personelle Basis für eine kriegstüchtige Bundeswehr gebildet werden. Das schwedische Modell kommt jedoch allenfalls in der Anfangsphase auf dem Weg zur Wiedereinführung des verpflichtenden Wehrdienstes in Betracht. Das angesprochene Modell deckt weder den schon bekannten militärischen Personalbedarf von 460.000 Soldaten, der durch den zu befürchtenden Wegfall US-amerikanischer Truppen in Europa weiter ansteigen dürfte, noch sorgt es für eine allgemeine und damit gerechte Wehrpflicht. Eine allgemeine Wehrpflicht sollte so gestaltet sein, dass jeder durch Ableistung von Wehr- oder Ersatzdienst seinen Teil zur Sicherheit, Verteidigung und dem Erhalt des Gemeinwohls beiträgt.
Ein schwieriger Weg für die Bundeswehr
Laut Statistischem Bundesamt wurden im Jahr 2023 in Deutschland 692.989 Personen lebend geboren, davon 355.298 männliche, 337.684 weibliche und sieben diverse oder ohne Angabe eines Geschlechts. Vorhergehende Jahrgänge lagen dabei aber immer über 700.000 Geburten. Ziel der allgemeinen Wehrpflicht muss es sein, jede Person eines Geburtsjahrgangs durch das Ableisten eines zwölfmonatigen Wehr- bzw. Ersatzdienstes zwischen dem vollendeten 18. und 21. Lebensjahr zum Dienst am Staat und der Gesellschaft zu verpflichten. Ausnahme von der Wehrpflicht darf es nur in denjenigen Härtefällen geben, in denen weder die Ableistung des Wehr- noch des Ersatzdienstes zumutbar wäre, zum Beispiel bei schweren Erkrankungen. Allgemeine Wehrpflicht heißt auch, eine Pflicht über soziale Unterschiede hinweg zu gestalten.
Die potenziell hohe Anzahl an auszubildenden Wehrpflichtigen wird eine große Herausforderung für die Bundeswehr darstellen. Gegenwärtig ist daran zu zweifeln, ob die Streitkräfte in ihrer aktuellen Verfassung diese Aufgabe meistern können. Eine Vielzahl der Berufssoldaten müsste Stabsverwendungen in Ämtern und Kommandos gegen die klassischen militärischen Verwendungen in der Truppe eintauschen. Die Zeit der Ausreden, wie „fehlende Ausbildungskapazitäten und Ausbilder“, „zu wenige und marode Kasernen“ oder „keine Finanzmittel“ ist jedenfalls vorbei. Es müssen alle erforderlichen Anstrengungen für das Gelingen der Kriegstüchtigkeit forciert werden.
Vor die Welle kommen
Das wird finanziell sehr aufwendig sein, doch lässt sich die zur Aussetzung der Wehrpflicht 2011 herangezogene Losung, eine professionalisierte Berufsarmee sei günstiger als eine Wehrpflichtarmee, rückblickend als Illusion bezeichnen. Neben der logistischen, infrastrukturellen, administrativen, personellen, gesellschaftlichen und materiellen Kraftanstrengung, die eine Wehrpflicht mit sich bringen wird, hat sich insbesondere die innere Einstellung der Bundeswehr gegenüber Wehrpflichtigen zu ändern. Wehrdienstleistende müssen als das wichtigste Bindeglied zur Bevölkerung, möglicher Personalpool und sowohl als aktive Soldaten, Reservisten und als integrativer Bestandteil der Verteidigungsplanungen verstanden werden. Es gilt für die Bundeswehr, vor die berühmte Welle zu kommen und proaktiv die Personaldeckung auf die zukünftigen Herausforderungen auszurichten, anstatt lediglich durch die weltpolitischen Entwicklungen zu reaktiven Problembedarfsdeckungen genötigt zu werden.
Wehr- und natürlich auch Ersatzdienstleistende sind umfangreich auszubilden, ihr Dienst ist wertzuschätzen und sie dürfen nicht als günstige Aushilfskräfte zweckentfremdet werden. Ausbildungsschwerpunkt für die Wehrpflichtigen ist die Landes- und Bündnisverteidigung und ihre künftige Rolle in der Reserve der Bundeswehr, während ein Teil der Zeit- und Berufssoldaten weiterhin auf das internationale Krisenmanagement vorbereitet und vorgehalten werden sollte. Bedenken, dass die Bundesrepublik die NATO-Vorgaben übererfüllen könnte, taugen nicht als Argument gegen die vorgeschlagene Wehrpflicht. Kein NATO-Partner wird sich über ein deutsches Mehr an Soldaten beschweren, sondern erwarten, dass Deutschland für die Sicherheit Europas endlich mehr Verantwortung übernimmt. Es stellt sich für die Bundesrepublik Deutschland und für die Bundeswehr eine historische Chance, aus den Narrativen der Nachkriegsordnung und den alten Denkmustern auszutreten.
Anpassungsbedarf bei den rechtlichen Grundlagen
Personen weiblichen oder diversen Geschlechts fallen also momentan nicht unter die Wehrpflicht, sodass es dafür einer Verfassungsänderung bedürfte. Eine dementsprechende Anpassung des Grundgesetzes wäre im Hinblick auf die gesellschaftliche und rechtliche Geschlechtergleichbehandlung wünschenswert, erscheint aber mit Blick auf die verfassungsändernden Mehrheitsverhältnisse des 21. Deutschen Bundestags momentan fernliegend. Die Verfassung eröffnet die Möglichkeit, auch Männer ohne deutsche Staatsbürgerschaft zum Wehr- oder Ersatzdienst zu verpflichten. Zu denken ist etwa an ausländische Personen männlichen Geschlechts mit dauerhaften Aufenthaltstiteln, die in Deutschland aufgewachsen sind und ihren ständigen Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik haben. Es bedürfte allerdings einer Anpassung des Wehrpflichtgesetzes und einiger weiterer Änderungen im Bereich der soldatischen und ersatzdienstlichen Bestimmungen. Mit dem verpflichtenden Wehrdienst könnten näher zu definierende Erleichterungen im Bereich des Staatsbürgerschaftsrechts verknüpft werden. Die Wehrpflicht würde so in gewisser Weise als integrationsbeschleunigendes und verbindendes Element dienen.
*Dieser Beitrag spiegelt ausschließlich die persönliche Meinung der Autoren wider.