„Der IS ist bedrohlicher als die Russen“
Herr Professor Münkler, womit muss heute ein junger Mensch rechnen, wenn er in Deutschland Soldat wird?
Dass er irgendwo in der Welt in einen Einsatz geschickt wird. Das macht den Beruf sicherlich spannender als früher und trägt zu seiner Attraktivität bei. Auf der anderen Seite wachsen damit natürlich die Risiken, jedenfalls die gefühlten Risiken.
In Afghanistan haben Bundeswehrsoldaten erstmals Kampfeinsätze geführt, was aber weder Gesellschaft noch Politik heute noch wollen. Nie wieder Kampfeinsatz – kann man das zum Ende des Afghanistaneinsatzes so resümieren?
Nein, aber vermutlich wird die Bundeswehr nie mehr so eingesetzt werden wie in Afghanistan. Dort war von Anfang an zu sehen, dass die Herausforderungen sehr viel größer sind als gedacht, weshalb die Politiker den Einsatz, um die Bürger bei der Stange zu halten, mit normativen Aufgaben überfrachtet haben. Die Soldaten sollten nicht das Gewaltniveau im Land reduzieren, sondern helfen, die afghanische Gesellschaft umzubauen. Das war naiv. So etwas wird es nicht mehr geben.
Und was folgt nun?
Einsätze, auch Kampfeinsätze, aber von vermutlich kürzerer Dauer und näher an Europa.
Wir Deutsche sind gegenüber Kampfeinsätzen skeptisch. Wollen wir nicht mehr kämpfen oder sind wir nur schlauer als andere bei der Konfliktlösung?
Lassen Sie es mich so sagen: In unserer Gesellschaft werden immer weniger Nachkommen geboren. Eltern lassen ihre wenigen Kinder nicht so ohne Weiteres in den Krieg ziehen, damit sie eine Friedensordnung im subsaharischen Afrika oder sonst wo durchzusetzen helfen. Außerdem haben wir uns als Konsequenz aus unserer Geschichte den Gebrauch von Gewalt zur Konfliktlösung aberzogen. Das sieht in anderen Gesellschaften übrigens nicht viel anders aus. Die haben sich nur bestimmte Möglichkeiten verschafft, um Konflikte gewaltsam zu lösen, die wir nicht haben. Bei den Briten sind das die in Nepal aufgesammelten Gurkas, die haben für die Krone den Bodenkrieg auf den Falklandinseln gewonnen. Die Franzosen haben ihre Fremdenlegion, in der heute allerdings nicht mehr so viele Fremde dienen, und die Amerikaner haben die privaten Militärunternehmen.
Sie behaupten, militärische Macht habe an Relevanz verloren. Wieso muss man mit Blick auf die Ukraine den Eindruck haben, dass das nicht stimmt?
Das ist nur auf den ersten Blick so. Was die EU und andere dort gerade machen, entspricht im Prinzip der klassischen Strategie von Seemächten: Sie operieren mit Handelsblockaden. Vermutlich trifft es Russland viel schmerzvoller, wenn es auf seinem Erdgas sitzen bleibt und der Rubel-Kurs fällt. Im Hintergrund steht letztlich aber die Frage, was ist eigentlich die russische Politik und worauf will sie hinaus.
Und, wie lautet Ihre Antwort?
Ich könnte drei Erklärungen anbieten. Erstens: Russland will ein eurasisches Reich schaffen. Georgien und die Ukraine sind sozusagen die ersten Schritte dabei gewesen, demnächst kommen die baltischen Staaten dran. Zweitens: Putin hat in Georgien begriffen, dass nur Nato-Mitglied werden kann, wer keine ungelösten Territorialfragen hat. Also wäre es doch sehr schlau von ihm, wenn er dort, wo er die Nato nicht möchte, Länder produziert, die territorial ungelöste Probleme haben. Das ist ihm in Georgien und der Ukraine auch gelungen. Drittens: Putin hat beobachtet, dass immer dann, wenn er einen kleinen Krieg erfolgreich führt, seine Popularitätswerte in Russland in die Höhe schießen. Ergo: Wenn er mal wieder Probleme mit seinen Popularitätswerten hat, dann beginnt er hier und da zu zündeln.
Und welche Erklärung halten Sie am ehesten für plausibel?
Der real existierende Putin ist nicht mit Putin eins, zwei und drei identisch. Meine Überlegungen sind Modelle. Sollte Erklärung zwei zutreffen, dass Putin also die Nato von seinen Grenzen fernhalten will, dann sind wirtschaftliche Gegenmaßnahmen, bei denen er spürt, dass der Preis für militärische Aggression ökonomisch hoch ist, ein geeignetes Mittel. Wenn sie über längere Zeit durchgehalten werden können, wird das seine Popularität auch negativ beeinflussen. Die Zeiten sind vorbei, in denen Gegenhandeln darin bestand, gegnerischen Panzern eigene Panzer entgegenzustellen. Raffinesse ist gefragt, selbst wenn sie auf den ersten Blick wie Schwäche aussieht.
Der Westen macht nicht den Eindruck, als ob er diese Sanktionen langfristig durchzuhalten gewillt ist.
Ja, und dafür gibt es Gründe, die von der Komplexität der aktuellen Lage in der Welt zeugen. Erstens: Die USA konzentrieren sich auf den pazifischen Raum, wir Europäer müssen einen Konflikt wie in der Ukraine jetzt selbst lösen. Das würden wir mit unseren Ressourcen auch schaffen, gäbe es nicht auch die Konflikte im Maghreb und in der Levante. Zu deren Lösung brauchen wir die Russen. Es liegt schlicht nicht in unserem Interesse, die Russen als strategischen Gegenspieler im Maghreb und in der Levante zu haben. Dann wird eine Konfliktlösung unmöglich, wie wir seit drei Jahren in Syrien sehen. Und zweitens: Erinnern wir uns an die Ära Jelzin, als Chaos in Russland herrschte. Diese Situation will niemand in Europa zurück. Also sollten wir uns damit arrangieren, dass in Russland eine leidlich stabile Ordnung herrscht, die Putin garantiert, um unsere Kräfte auf die Herausforderungen im südlichen und südöstlichen Europa zu konzentrieren. Dort liegen unsere eigentlichen Sicherheitsprobleme.
Wie bewerten Sie es, dass sich die Amerikaner im Ukraine-Konflikt so stark zurückhalten?
Für die USA sind die Russen eine Regionalmacht, kein weltpolitischer Gegenspieler. Sie konzentrieren ihre Aufmerksamkeit und Ressourcen auf den pazifischen Raum und vermeiden so eine Überdehnung der eigenen Kräfte. Allerdings ist es auch ein bisschen wie eine Wette mit der Geschichte, bei der man nicht weiß, wie sie ausgeht. Das wird auch davon abhängen, wie sich Deutschland schlägt. Denn durch die amerikanische Zurückhaltung ist die deutsche Verantwortung innerhalb Europas explosionsartig gestiegen.
Werden wir dieser Verantwortung gerecht?
Die deutsche Politik ist ganz vernünftig. Sie ist darauf bedacht, die vielfach gegensätzlichen Interessen der europäischen Staaten im Verhältnis zu Russland auszugleichen. Wir zeigen Flagge, setzen Grenzen, eskalieren aber nicht weiter. Das halte ich für klug.
Wenn die Amerikaner die Russen nicht mehr als Gegenspieler sehen und sich auf die Geschehnisse in Syrien und im Irak konzentrieren, heißt das dann, dass sie eine Terrorgruppe wie IS eher als Gegenspieler betrachten als Russland?
So ist es. Das begreift man aber erst, wenn man die Gestaltförmigkeit des Gegenübers verstanden hat. Wenn Putin neoimperiale Träume hat, dann sind die doch "Politik von gestern". Im Prinzip geht es darum, sich ein Stück Territorium anzueignen. Unabhängig von der Reaktion des Westens wird das Ergebnis darin liegen, dass Russland schwere ökonomische Belastungen schultern muss, um die Krim und den Donbass seiner Infrastruktur anzugliedern. Das wird richtig teuer. Damit ist Russland über Jahre an der eigenen Peripherie beschäftigt.
Und was hat das jetzt mit den IS-Dschihadisten zu tun?
Der IS ist eine Organisation, die aus der Tiefe des sozialen Raums kommt. Dieser Akteur hat nur ein begrenztes territoriales Interesse. Eroberte Gebiete kann er auch schnell wieder aufgeben, ohne damit vernichtet zu sein. Wenn IS tatsächlich irgendwann niedergekämpft wäre, hieße das ja nicht, dass diese Terrorstrukturen verschwinden. Nein, sie transformieren sich immer wieder. Das zeigt ein Blick in die Geschichte: Diese Leute waren bei der algerischen Heilsfront, vielleicht auch kurzzeitig in Bosnien und vorher in Afghanistan. Die sind sozusagen überall einsetzbar, Menschen ohne festes Territorium, global unterwegs. Weil nun die USA selbst global aktiv sind und es ihnen eigentlich nicht so sehr um die Kontrolle des Festen, des Territoriums geht, sondern eher des Fluiden, also der Ströme von Menschen, Gütern, Kapital und Informationen, ist IS für sie ein sehr viel bedrohlicherer Gegenspieler als die Russen, die sich irgendwo am Schwarzen Meer verausgaben.
IS bedroht den globalen Machtanspruch der Amerikaner?
Das ist vielleicht zu viel gesagt. Aber nicht zuletzt durch das Wüten von IS steht jetzt der gesamte Nahe Osten vor einer Neuordnung. Und das ist ein viel größeres Problem mit viel größeren Folgen als die russische Besetzung der Krim.
Könnte es sein, dass wir Deutsche die Kurden gerade in ihrem Bestreben nach einem eigenen Staat unterstützen?
In gewisser Hinsicht tun wir das, auch wenn es nicht unsere Absicht ist und wir von den Kurden fordern, die Waffen dürften nur gegen den IS, aber nicht zum Aufbau eines eigenen Kurdenstaates eingesetzt werden. Wir ahnen, dass das nicht aufgehen wird. Andererseits können wir auch nicht nichts tun. Dazu ist der Handlungsdruck auf die Bundesregierung nach den grausamen Bildern des Geschehens in Syrien und im Irak zu groß geworden.
Besteht darin das Dilemma heutiger Sicherheitspolitik?
Zumindest dann, wenn man in Konflikten aktiv ist, in denen man nicht über ein Instrument verfügt, das man selbst fest in der Hand hat, sondern eben andere als Instrument nutzt. Dann muss man wissen, dass dieses Instrument, in diesem Fall die kurdischen Peschmerga, einen eigenen Willen hat. Aber dadurch haben wir ein anderes Dilemma aufgelöst und zwar dies, ein Sicherheitsproblem mit eigenen Soldaten lösen zu müssen.
Die Waffenhilfe für die Peschmerga ist sozusagen das weniger schmerzhafte Dilemma?
Genau. Oder in Variation des kleineren Übels ist sie das kleinere Dilemma.
Sie sagen, den USA käme es vor allem darauf an, Waren- und Finanzströme zu kontrollieren. Das liegt auch im Interesse einer Wirtschafts- und Exportnation wie Deutschland. Deshalb müssen auch wir alles tun, dass sich Organisationen wie IS oder Al-Qaida nicht weiter ausbreiten.
Richtig, das würde sich sofort auf unsere Konjunktur, also unseren Wohlstand auswirken.
Und warum tun wir dann so wenig?
Das ist das klassische Problem von kollektiven Gütern. Ich erkläre es mal anhand der Tragödie der Allmende: Allmende ist das Stück Land, auf dem jeder seine Tiere weiden lassen darf, da sie allen gehört, auf dem sich aber niemand für Düngung und Wiederwachstum verantwortlich fühlt. Im Prinzip hat derjenige den größten ökonomischen Nutzen, der am häufigsten seine Tiere dort drauf treibt und gleichzeitig am wenigstens investiert. So ähnlich ist das mit einer internationalen Ordnung, von deren Nutzung keiner ausgeschlossen werden kann. Es gibt eine starke Neigung zum Trittbrettfahrertum. Die Amerikaner garantieren und finanzieren eine Ordnungsstruktur in der Welt, von der auch wir Deutschen profitieren, ohne allzu viel dafür zu tun. Ich meine das nicht vorwurfsvoll. Das ist schlau, jedenfalls kurzfristig. Wir Deutschen haben gelernt, endlich mal ausschließlich und hemmungslos unseren Wohlstand zu bedenken und dafür die Welt nicht gleich mit Krieg zu überziehen. Auf Dauer geht das allerdings nicht gut. Wir werden die Herausforderungen an unserer Peripherie annehmen und deswegen Schlauheit mit Klugheit verbinden müssen. Das heißt, etwas für das Kollektivgut Sicherheit zu tun.
Den Gegner wirtschaftlich niederzuringen, wird uns demnach auf Dauer nicht mehr vergönnt sein. Brauchen wir also weiterhin Soldaten?
Ja, weil auch bei der wirtschaftlichen Niederringung nichts gestaltet wird, sondern letztlich nur destruiert wird. Ein noch niedrigerer Erdgaspreis und ein noch schlechterer Rubel-Kurs wird kein neues demokratisches zivilgesellschaftliches Russland hervorbringen, sondern nur den inneren Zerfallsprozess beschleunigen. Insofern muss man sich sehr gut überlegen, was man davon hat, wenn man einen unangenehmen Spieler, der gelegentlich Gegenspieler ist, ruiniert. Vielleicht kann es sein, dass man dem eher nur einen Denkzettel verpassen, ihn aber nicht aus dem Spiel nehmen will, weil man weiß, dass man ihn irgendwann noch mal braucht.
Herr Professor Münkler, vielen Dank für das Gespräch.
Transkription: Jan Melber
Bild oben:
Prof. Herfried Münkler bei einer
Veranstaltung der Hermann-Böll-Stiftung.
(Foto: Stefan Röhl / Heinrich-Böll-Stiftung via flickr.com,
unter der Creative-Commons-Lizenz)
Zweites Bild:
Prof. Herfried Münkler – kein Politikwissenschaftler in der
Bundesrepublik forscht intensiver über die Kriege dieser Welt
als er. (Foto: Stefan Röhl / Heinrich-Böll-Stiftung via flickr.com,
unter der Creative-Commons-Lizenz)
Drittes Bild:
Symbolbild: Russische Soldaten.
(Foto: gemeinfrei)
Viertes Bild:
US-Aufklärungsbilder zum alliierten Luftangriff
auf die vom IS kontrollierte Gbiebe-Ölraffinerie.
(Foto: gemeinfrei)
Bild unten:
Symbolbild: Das zerstörte Bagdader Canal Hotel
nach dem Bombenanschlag auf die
United Nations Assistance Mission for Iraq.
(Foto: gemeinfrei)