Zäsur in der deutschen Staatsräson
Erstmals stellt eine deutsche Regierung öffentlich infrage, ob Waffenexporte nach Israel noch mit dem Völkerrecht vereinbar sind – aus gutem Grund: Internationale Partner üben Druck aus, Juristen warnen vor Beihilfe zu Kriegsverbrechen.
Die Zivilbevölkerung derart in Mitleidenschaft zu nehmen, lässt sich nicht mehr mit einem Kampf gegen den Terrorismus der Hamas begründen“, sagte Bundeskanzler Friedrich Merz Ende Mai 2025. Außenminister Johann Wadephul legte nach: „Es wird geprüft, ob das, was im Gazastreifen geschieht, mit dem humanitären Völkerrecht in Einklang zu bringen ist. An dieser Prüfung ausgerichtet, werden wir gegebenenfalls weitere Waffenlieferungen genehmigen.“
Diese Formulierungen markieren eine politische Zäsur. Die deutsche Staatsräson – die Unterstützung Israels als Folge des Holocaust – galt bisher als unantastbar. Jetzt stellt ein CDU-geführtes Kabinett erstmals öffentlich in Frage, ob diese bedingungslose Solidarität mit einem Krieg vereinbar ist, dessen Bilanz immer grausamer wird: Laut New York Times sind seit Oktober 2023 fast 56.000 Palästinenser getötet worden, der Großteil davon Frauen, Kinder und Menschen über 65 Jahre. 90 Prozent der Bevölkerung sind auf der Flucht, viele mehrfach vertrieben. Bäckereien sind geschlossen, Märkte leer. Hunger, Krankheit und Obdachlosigkeit sind allgegenwärtig.
Von Anfang März bis Mitte Mai hatte Israel den Gazastreifen 80 Tage lang vollständig blockiert – kein Zugang zu Lebensmitteln, Treibstoff oder Medizin. Selbst nachdem es zur Lockerung kam, bleibt die Versorgung prekär: Ein von Israel unterstütztes neues Hilfsverteilungssystem der US-amerikanischen „Gaza Humanitarian Foundation“ geriet zuletzt durch ein tödliches Feuergefecht Anfang Juni in Rafah in die Kritik. Mindestens 31 Menschen wurden laut dem Gesundheitsministerium in Gaza getötet, 179 verletzt, wie das Rote Kreuz berichtete. Israel dementierte die Berichte. Eine vorläufige Untersuchung habe ergeben, dass nicht auf Zivilisten geschossen worden war, während diese sich in der Nähe oder innerhalb des Verteilungszentrums für humanitäre Hilfe aufhielten. Doch das Rote Kreuz erklärte in einer Stellungnahme: „Alle Patienten gaben an, dass sie versucht hatten, eine Hilfsgüterausgabestelle zu erreichen.“ Die Vereinten Nationen und andere große humanitäre Hilfsorganisationen boykottieren das neue Versorgungssystem und werfen Israel vor, die Hilfslieferungen als Teil seiner Militärstrategie zu missbrauchen.
Der Internationale Gerichtshof (IGH) untersucht, ob Israel durch sein Vorgehen im Gazastreifen gegen die Völkermordkonvention verstoßen könnte. Südafrika hatte im Dezember 2023 eine entsprechende Klage gegen Israel eingereicht.
Druck auf Israel wächst
Weltweit wächst der Druck auf Israel – selbst die engsten Verbündeten äußern Kritik. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron warnte, der Westen verliere seine Glaubwürdigkeit, wenn Israel ein „Freifahrtschein“ ausgestellt werde, und drohte mit einer härteren EU-Position, sollte keine Verbesserung der humanitären Lage eintreten. Die Trump-Administration, bislang klar proisraelisch, fordert inzwischen ein baldiges Ende der israelischen Operationen. Auch Großbritannien und Kanada drohten mit Sanktionen, Italien fordert einen sofortigen Waffenstillstand.
Deutschland jedoch zögert. Dabei ist die rechtliche Lage eindeutig: Laut dem Kriegswaffenkontrollgesetz muss eine Ausfuhrgenehmigung versagt werden, wenn Grund zur Annahme besteht, dass sie gegen völkerrechtliche Verpflichtungen Deutschlands verstößt. Die Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) argumentiert, dass Deutschland sich durch Waffenexporte nach Israel der Beihilfe zu Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord schuldig machen könnte. ECCHR-Rechtsanwältin Lilian Löwenbrück weist in einem Interview mit dem Portal Qanatar darauf hin, dass viele der genehmigten Güter – etwa Panzergetriebe oder Software für Drohnen – zentrale Funktionen in Israels Kriegseinsatz erfüllen. „Auch ein Panzergetriebe ist sehr relevant für die Kriegsführung“, betonte Löwenbrück.
Deutschland ist nach den USA der zweitgrößte Waffenlieferant Israels. Bereits im Oktober 2023 wurden Genehmigungen im Wert von über 203 Millionen Euro erteilt – mehr als 60 Prozent des gesamten Exportvolumens für das Jahr 2023. 3.000 Panzerfäuste wurden laut ECCHR im Oktober 2023 genehmigt und im November 2023 geliefert.
Zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 13. Mai 2025 genehmigte die Bundesregierung Waffen- und Rüstungsexporte an Israel im Gesamtwert von 485,1 Millionen Euro. Das geht aus einer Antwort des Bundeswirtschaftsministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor, wie die Nachrichtenagentur dpa berichtete.
Erzwungene Kehrtwende
Die Kehrtwende der aktuellen Regierung scheint weniger moralisch motiviert als durch den wachsenden internationalen Druck erzwungen. Im Mai kritisierte Merz erstmals öffentlich Israels Kriegsführung als unverhältnismäßig: „Das, was die israelische Armee jetzt im Gazastreifen macht, ich verstehe – offen gestanden – nicht mehr, mit welchem Ziel.“ Doch innerhalb der Union ist dieser Kurswechsel umstritten. CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann sagte dem Magazin Spiegel: „Freunde kann man kritisieren, aber nicht sanktionieren. Das wäre das Ende der Staatsräson gegenüber Israel, und das ist mit der CSU nicht zu machen.“ Auch Bundesinnenminister Dobrindt erklärte: Israel habe ein „Recht auf Selbstverteidigung“ und kündigte weitere Solidaritätsreisen an.
Die Bezugnahme auf die deutsche Staatsräson, also das unerschütterliche Bekenntnis zur Sicherheit Israels, wird in der Debatte häufig so eingesetzt, dass sie weiterführende Kritik oder offene Diskussionen von vornherein unterbindet. Doch selbst der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein äußerte sich kritisch. Die Palästinenser auszuhungern und die humanitäre Lage vorsätzlich zu verschlimmern, habe nichts mit der Sicherung des Existenzrechts Israels zu tun. „Und es kann auch nicht deutsche Staatsräson sein“, erklärte er Ende Mai.
Angesichts der Lage in Gaza, der hohen Zahl ziviler Opfer und der zunehmenden internationalen Kritik ist die Fortsetzung deutscher Waffenlieferungen auch ein rechtliches Risiko. Die Kombination aus politischer Staatsräson, wirtschaftlichen Interessen und zögerlicher Justiz droht Deutschland in die Komplizenschaft bei Völkerstraftaten zu führen. Der internationale Druck steigt. Die humanitäre Lage ist katastrophal. Und eine juristische Bewertung wird nicht ausbleiben. Es ist höchste Zeit, dass Deutschland seine Praxis überprüft – nicht nur im Lichte seiner Geschichte, sondern auch im Interesse seiner Glaubwürdigkeit als Rechtsstaat.