Eingefrorener Konflikt
Fünf Kriege haben Armenien und Aserbaidschan in den vergangenen 35 Jahren gegeneinander geführt. Zunächst war Armenien siegreich, dann Aserbaidschan. Mit der Eroberung der Exklave Bergkarabach beendete Aserbaidschan 2023 eine Tausende Jahre dauernde armenische Präsenz dort. Armenien sucht inzwischen den Frieden, doch der Weg dahin ist weit und steinig. Bislang ist der Konflikt nur eingefroren. Die EU beobachtet die Lage genau. Besuch in einem Land am Rande Europas mit einer ganz eigenen Identität.
Die beiden Geländewagen vom Typ Toyota Land Cruiser LC 76 ziehen auf Feldwegen den Berg hinauf. Fahrer Petr Tuma, ein Tscheche, muss einen Gang runterschalten und Gas geben, so steil ist es. Eine Senke auf dem holprigen Weg hat sich nach dem Regen in der vergangenen Nacht mit Wasser gefüllt, das Auto watet mit einer Bugwelle hindurch. Auf der anderen Seite geht es über eine Bodenwelle weiter, immer höher hinauf. Die Landschaft hier im Süden Armeniens, in der dünn besiedelten Provinz Wajoz Dsor ist karg, nur Grasmatten bedecken den Boden. Kein Baum, kein Strauch weit und breit. Dafür eine fantastische Fernsicht an diesem Tag, bis hinüber zum Berg Ararat in der Türkei, dem heiligen Berg der Armenier. Der Legende nach soll dort die Arche nach der Sintflut auf Land gekommen sein. Noah ließ eine weiße Taube fliegen. Sie brachte einen Olivenzweig zurück – ein Zeichen, dass die Katastrophe überstanden war.
Die beiden Toyotas mit der blau-gelben Europaflagge am Heck stoppen auf einem Bergrücken auf 2.200 Meter Höhe. Petr Tuma und seine drei Kollegen von der europäischen Beobachtermission EUMA (European Union Mission in Armenia) steigen aus. Sie greifen zum Fernglas. Der Blick geht weit über die spektakuläre Hochgebirgslandschaft bis hinunter in die vorgelagerten Ebenen. Von diesem Punkt im Südkaukasus können die Polizisten aus Tschechien, den Niederlanden und Deutschland in gleich drei Länder blicken: Aserbaidschan, Türkei und Iran.
Schusswechsel häufen sich
Einer der beiden Deutschen im Team an diesem Tag ist Matthias „Timmi“ Glaschke. Für ihn ist es die letzte Patrouille. In der folgenden Woche nach dieser Ausfahrt wird es zurück nach Deutschland gehen. Nicht weniger als 250 solcher Patrouillen hat er in den zurückliegenden zwölf Monaten absolviert. Glaschke ist Polizeihauptkommissar bei der Autobahnpolizei in Hilden. Sein Einsatz in Armenien hatte nichts mit dem zu tun, was er aus Nordrhein-Westfalen kennt. Hier in Armenien geht es darum, Tag für Tag durch eine grandiose, aber weitgehend menschenleere Gebirgskulisse zu fahren und zu schauen, ob es an der nicht markierten Grenze zu Aserbaidschan ruhig bleibt. Bericht wird nach Brüssel erstattet. Erst recht nach Schusswechseln, wie sie in jüngster Zeit wieder vermehrt vorkommen. Das berichtet EUMA-Leiter Markus Ritter, der regelmäßig selbst auf Patrouille fährt und auch heute dabei ist. Er kennt die Gegend wie seinen Garten daheim in Baden-Württemberg.

Armenien und Aserbaidschan belauern sich in einem Zustand, der nicht mehr Krieg, aber auch noch lange kein sicherer Frieden ist. Fünfmal seit 1990 haben die beiden Nachbarn gegeneinander Krieg geführt: 1990 bis 1994, dann kurz hintereinander 2016, 2020, 2022 und zuletzt 2023. Im ersten Krieg Anfang der 1990er-Jahre hatte sich nach dem Zerfall der Sowjetunion das armenisch besiedelte Bergkarabach, das völkerrechtlich auf aserbaidschanischem Territorium liegt, für unabhängig erklärt. Die Unabhängigkeit wurde freilich international nicht anerkannt. Armenien war damals militärisch weit überlegen, besetzte sieben um Bergkarabach gelegene aserbaidschanische Provinzen als Pufferzone. Das besetzte Gebiet war um ein Vielfaches größer als das eigentliche Bergkarabach mit rund 4.400 Quadratkilometern und seinen damals etwa 150.000 Einwohnern.
Erstmals Drohnenkrieg
Bis Herbst 2020 hatte Aserbaidschan soweit aufgerüstet, dass es in einer Militäroffensive die besetzten Gebiete zurückerobern konnte. Erstmals in der Geschichte wurde ein Krieg maßgeblich von Drohnen entschieden. Aserbaidschan bekam sie aus der Türkei und Israel. Israel deckt aus dem rohstoffreichen Aserbaidschan einen Großteil seines Ölbedarfs, im Gegenzug rüstet es die Regierung in Baku als Gegengewicht zum angrenzenden Iran, dem Erzfeind Israels, auf. Armenien verließ sich auf seine bisherige Schutzmacht Russland – und wurde enttäuscht. Ein von Russland vermittelter Waffenstillstand blieb brüchig.
2022 griffen aserbaidschanische Truppen dann erstmals das armenische Kernland an. Sie rückten mehrere Kilometer auf armenisches Territorium vor, besetzten Gebirgspässe und Höhenzüge. Obwohl Armenien Mitglied im östlichen, von Russland geführten Verteidigungsbündnis OVKS ist, bekam es keine Unterstützung aus Moskau – im Gegenteil: russische Truppen waren kurz vor dem Einmarsch der Aserbaidschaner ohne Begründung aus den betroffenen Gebieten abgezogen. Derart alleingelassen, wandte sich die Regierung in Jerewan an die Europäische Union mit der Bitte, eine Beobachtermission zu entsenden, die entlang der rund 1.000 Kilometer langen Grenze zu Aserbaidschan präsent sein sollte.

Beschlossen wurde zunächst eine zweimonatige Mission, der Aserbaidschan zustimmte. Im Oktober 2022 ging es mit 40 europäischen Kräften los. Sie kamen von der European Union Monitor Mission (EUMM) aus dem benachbarten Georgien. Als Armenien Interesse zeigte, die Mission auf Dauer zu stellen, verweigerte Aserbaidschan jede weitere Kooperation. Die EU ließ sich davon nicht beindrucken: Am 20. Februar 2023 nahm diese nunmehr EUMA genannte neue Mission ihre Arbeit auf. Ihren Aufbau übertrug die EU dem damaligen Präsidenten der Bundespolizeidirektion Stuttgart, Markus Ritter. Der promovierte Jurist ist ein Fuchs in internationalen Einsätzen: Er war zuvor im Kosovo, in Georgien, in Afghanistan, im Südsudan und im Irak – also bis auf Georgien überall da, wo es gefährlich werden konnte. Ritter kann man so schnell nichts vormachen. Er baute die EUMA-Mission in Yeghegnadzor im Süden Armeniens Zug um Zug auf. Und identifizierte sich bald so sehr mit der Sache, dass er nach zwei Jahren um ein weiteres Jahr als Leiter verlängerte. Im kommenden Februar soll es dann aber endgültig zurück nach Deutschland und in den Ruhestand gehen. Ritter ist jetzt 63 Jahre alt und kann sich auch noch anderes vorstellen, als eine Truppe von 225 Männern und Frauen aus 27 Nationen am Rande Europas zu führen. Die Beobachter kommen aus 25 EU-Staaten sowie Kanada, zusätzlich unterstützen 59 armenische Ortskräfte. Ritter kann sich zum Beispiel vorstellen, bei der DLRG, bei der er ein halbes Leben lang schon Mitglied ist, Schwimmunterricht zu geben. Das ist jedenfalls einer seiner Pläne für den Ruhestand. Bis dahin bewegt er sich in den abgelegensten Ecken Armeniens, wo kein Tourist und selbst nur wenige Armenier hinkommen.
Ein Reservist als als Head of Mission Support
Bewegung ist die DNA der Beobachtermission, ständig unterwegs zu sein ihre Aufgabe. Die 85 Fahrzeuge – alles Toyota Land Cruiser und Pathfinder – haben es in den vergangenen zwölf Monaten auf beachtliche 734.156 Kilometer Fahrleistung gebracht – das ist mehr als 18 Mal um die Erde. Die Zahl zieht Jens Veer aus seinem Rechner. Veer, Oberstleutnant der Reserve bei der Division Schnelle Kräfte in Stadtallendorf, ist Informatiker und als Head of Mission Support auch für die Materialbewirtschaftung der EUMA zuständig. Erst vor zwei Wochen, so sagt er, hat er wieder 31 neue Fahrzeuge reinbekommen. Warum Toyota? „Die lassen sich überall reparieren.“

Zum einen bewegen sich die EUMA-Polizisten an der Konfliktlinie zu Aserbaidschan, zum anderen besuchen sie Dörfer im Hinterland und reden mit den Menschen. Auch in Schulen gehen sie, sprechen über die Mission, aber auch über die EU und sich persönlich. „Das schafft Vertrauen und ein Gefühl der Sicherheit“, sagt Missionschef Ritter. „Die Menschen sind froh, dass wir hier sind.“ Die Angst vor Aserbaidschan und einem weiteren Krieg ist groß. Auch Besuche in Stellungen der armenischen Streitkräfte stehen immer wieder auf dem Dienstplan. Während der Patrouille an diesem Tag, an dem der Tscheche Petr Tuma den Wagen immer höher hinauffährt, zeigt Ritter auf helle Streifen auf den Bergen gegenüber. Das sind Militärstraßen, die die Armenier zu ihren Stellungen in der Höhe bauen. Hier liegt eine Artilleriestellung, dort ein Versorgungsdepot. Militär überall, allerdings nur auf den zweiten Blick sichtbar.
Es gibt ein Talsystem, das sich von Aserbaidschan im Osten durch die Berge des Südkaukasus bis zur aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan westlich von Armenien zieht. Ein aserbaidschanischer Angriff würde wahrscheinlich durch diese Täler führen. Doch oben auf den Bergen sitzen armenische Soldaten und könnten es dem Angreifer schwer machen. „Die Geografie in dieser Region spielt den Verteidigern in die Hände“, sagt Ritter. Einerseits. Andererseits ist Armenien an seiner engsten Stelle kaum mehr als 40 Kilometer breit.

An diesem Tag ist es oben auf der Höhe ruhig. Auch Polizist Timmi Glaschke aus Hilden kann durch sein Fernglas nichts Ungewöhnliches entdecken. Tagsüber ist es fast immer ruhig. Nachts nicht unbedingt. Seitdem die Aserbaidschaner neuerdings immer mal wieder im Dunkeln über die Grenze schießen, hat die EUMA ihre Patrouillen in der Nacht ausgeweitet. So sind die europäischen Polizisten in der Einsamkeit des Südkaukasus tatsächlich Tag und Nacht unterwegs – und bei jedem Wetter. Nicht immer ist es so schön wie an diesem Tag. Insbesondere die extrem kalten und schneereichen Kaukasus-Winter hätten es in sich, berichten die Polizisten. Sie haben alle ein spezielles Offroad-Fahrtraining durchlaufen, um mit dem Gelände und dem Wetter klarzukommen.
Keine Uniform, keine Bewaffnung
Die EUMA-Angehörigen sind nicht bewaffnet, tragen nicht einmal Uniform – nur Westen mit dem EU-Emblem. Man zeigt sich offen, will die aserbaidschanische Seite nicht provozieren. Die EUMA ist der Regierung in Baku ein Dorn im Auge. Zu den aserbaidschanischen Forderungen für einen Friedensvertrag gehört auch der Abzug fremder Kräfte von der Grenze. Gemeint ist die EUMA. Wenn niemand mehr die nächtlichen Schießereien registriert, könnte Aserbaidschan Armenien die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Kürzlich hat der stellvertretende Vorsitzende der aserbaidschanischen Nationalversammlung, Ziyafat Asqarov, Armenien vorgeworfen, aufzurüsten und Zwischenfälle zu provozieren. „Armenien stellt sich selbst als Friedenstaube da, zeigt aber sein wahres Gesicht“, so Asqarov im Gespräch mit dem Portal Telegraf mit Sitz in Baku.
In Armenien ist auch der russische Inlandsgeheimdienst FSB aktiv. Er kontrolliert die Grenzen zur Türkei und zum Iran. Diese Regelung aus Sowjetzeiten, als der Moskauer Inlandsgeheimdienst für die Sicherung der Außengrenzen der UdSSR zuständig war, wurde von Armenien kurz nach der Unabhängigkeit 1991 verlängert. Seit Armenien nicht mehr an Russland als Schutzmacht glaubt, hat es das Land geschafft, die Präsenz der FSB-Leute an der Grenze zum Iran auszudünnen und zumindest die Kontrolle des internationalen Flughafens Jerewan in eigene Regie zu übernehmen. Auch dort waren die Russen präsent. In der Stadt Gjumri gibt es immer noch eine russische Garnison. Dort waren bis zum Überfall Russlands auf die Ukraine rund 4.000 Soldaten stationiert, inzwischen sollen es nur noch rund 1.000 sein. Der Rest ist wohl in der Ukraine.

Die kritischste Situation erlebten Ritter und seine EUMA-Kollegen im September 2023, als Aserbaidschan Bergkarabach überrollte. Das mehrheitlich armenisch besiedelte Gebiet auf dem Territorium Aserbaidschans war seit langer Zeit Kern des Konflikts zwischen beiden Staaten. Ende 2022 setzte Aserbaidschan zur endgültigen Eroberung an. Dazu wurde die einzige Landverbindung nach Armenien, der Latschin-Korridor, abgeriegelt und Bergkarabach isoliert. Diese Hungerblockade weckte in Armenien schlimmste Erinnerungen an das nationale Trauma, den Genozid von 1915, als im Osmanischen Reich 1,5 Millionen Armenier systematisch ermordet wurden – unter anderem, indem man sie in die Wüste trieb und verhungern ließ. Im September 2023 eroberten aserbaidschanische Truppen dann in kurzer Zeit Bergkarabach. Die letzten 100.000 Armenier flüchteten aus ihrer Heimat. Das armenische Kernland war ihre letzte Zuflucht. Heute leben in Bergkarabach praktisch keine Armenier mehr.
Das eigene Grab zurückgelassen
Eine derjenigen, die dort alles verloren haben, ist Irina Baghdasaryan mit ihrer Familie. Die 38-Jährige erinnert sich mit Schrecken an jenen 19. September 2023. Sie lebten im Dorf Chankatagh in der Region Martakert. Am Vormittag hörte sie vom Einmarsch aserbaidschanischer Truppen. Es ging alles so schnell, dass sie nicht einmal mehr ein Familienfoto von der Wand nehmen konnte. Die Familie floh mit vier kleinen Kindern und der damals 81 Jahre alten Großmutter Raya, als ihr Dorf schon von aserbaidschanischen Soldaten umstellt war. Irgendwie fanden sie einen Durchschlupf und schlugen sich in die Wälder, liefen die ganze Nacht, teilweise verfolgt von Soldaten. Sie hatten kein Essen dabei, kein Wasser und an Kleidung nur das, was sie am Leibe trugen.

Auf der Flucht sahen sie, wie ein armenischer Panzer vor ihren Augen durch eine Granate zerstört wurde. Endlich trafen sie auf armenische Soldaten, die sie auf einem Lastwagen in die Hauptstadt Bergkarabachs, Stepanakert, mitnahmen. Dort harrten sie noch vier Tage bei Bekannten aus, bis sie in einem Bus über den von Flüchtlingen völlig überfüllten Latschin-Korridor nach Armenien gelangten und dort in einem Aufnahmelager der vom Erzbischof von Yeghegnadzor gegründeten Nichtregierungsorganisation Community Development Zuflucht fanden.
Irina Baghdasaryan, die in Bergkarabach als Assistentin der Geschäftsführung einer Goldmine gearbeitet hatte, ist trotz aller Hilfen nach der Flucht nie richtig in der Gesellschaft des armenischen Kernlands angekommen. Sie ist geschieden und arbeitslos, der zehnjährige Sohn Artur ist seit jenen Ereignissen traumatisiert und bedarf viel Zuwendung durch die Mutter. Die Familie lebt unter ärmlichen Verhältnissen in Yeghegnadzor von Spenden und der kargen Rente der heute 83-jährigen Großmutter Raya, die in Bergkarabach als Reinigungskraft gearbeitet hat. Die schwarz gekleidete, ausgemergelte alte Dame verbirgt ihr Gesicht hinter den Händen, ihr laufen Tränen über die Wange, als sie von der Flucht berichtet. „Ich wollte in Bergkarabach sterben und dort begraben werden“, sagt sie. „Dann haben wir alles verloren, sogar unser eigenes Grab.“

Ähnlich hart traf es die Familie Ishkhanyan, die heute in einem kleinen Haus am Rande von Yeghegnadzor lebt. Sie wurde gleich zweimal vertrieben: Im Krieg 2020 aus ihrer Stadt Schuschi und dann 2023 noch einmal und endgültig aus Stepanakert, wohin sie nach Ende der Kampfhandlungen 2020 gezogen waren. Sie haben sich aber im Gegensatz zu den Baghdasaryans eine Perspektive in Armenien aufgebaut. Familienvater Armen Ishkhanyan arbeitet als Fernfahrer, seine Frau Gohar (38) als Designerin. Auch wenn sie sich integriert hätten, gäben sie nie die Hoffnung auf, eines Tages nach Bergkarabach zurückzukehren, sagt Gohar Ishkhanyan im Gespräch mit loyal. Die armenische Staatsbürgerschaft haben sie jedenfalls nicht angenommen, um sich die Rückkehr nicht zu verbauen.
Rückkehr in die Heimat unwahrscheinlich
Dass sie wieder in ihre Heimat Bergkarabach kommen werden, ist aus heutiger Perspektive äußerst unwahrscheinlich. Der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan ist entschlossen, die Zeit der Kriege mit Aserbaidschan hinter sich zu lassen. Dabei hat er eine bemerkenswerte politische Wende vollzogen. Im August 2019 setzte er mit der provokanten Aussage „Karabach ist Armenien! Punkt!“ für Aufsehen. Heute verfolgt er eine Politik der Anerkennung des Faktischen: nämlich, dass Bergkarabach verloren ist und dass man in die Zukunft schauen müsse.
Paschinjan will einen Friedensvertrag mit Aserbaidschan und ist dafür auch zu größten Zugeständnissen bereit. Das wird von nicht wenigen als Unterwerfung kritisiert. Paschinjans Sinneswandel resultiert aus der Erkenntnis, dass die armenische Armee zu schwach ist, um noch einmal gegen Aserbaidschan bestehen zu können. Aserbaidschan verfügt über eine Truppenstärke von 126.000 Mann, 300.000 Reservisten und 15.000 Mann paramilitärischer Kräfte. Dem stehen in Armenien nicht einmal 60.000 Soldaten und rund 200.000 Reservisten gegenüber. Zudem ist die aserbaidschanische Armee dank der Waffenhilfe aus der Türkei und Israel besser ausgerüstet als die armenische, die sich vor allem auf altes sowjetisches Gerät stützt.
Der armenischstämmige US-Amerikaner Richard Giragosian, der 2006 nach Armenien kam und dort die unabhängige Denkfabrik Regional Studies Center gründete, unterstützt die Politik des Ministerpräsidenten: „Man muss davon ausgehen, dass das, was verloren ist, wirklich verloren ist“, sagt er im Gespräch mit loyal in der Hauptstadt Jerewan. Eine akute Kriegsgefahr sieht er nicht. Aserbaidschan habe mit der Eroberung Bergkarabachs sein strategisches Ziel erreicht. Zudem gebe es in Aserbaidschan „keine Tradition, fremdes Gebiet zu besetzen“, so Giragosian. Die armenischen Streitkräfte wiederum seien inzwischen auf Verteidigung fokussiert und zu offensiven Operationen nicht mehr in der Lage. „Wir haben unsere Lektion gelernt“, stellt der Politikwissenschaftler fest, der auch am NATO-Defense College in Rom lehrt.
Tief sitzendes Trauma in der armenischen Gesellschaft
Neuerdings dürfen in Armenien auch Frauen freiwilligen Militärdienst ableisten – sechs Monate im Gegensatz zu dem 24-monatigen Pflichtdienst für Männer. Groß ist die Nachfrage nicht. Im armenischen Fernsehen wurde kürzlich die erste Soldatin vorgestellt – ein Jahr, nachdem die Neuregelung in Kraft getreten ist. Wer Geld hat, kann sich von der Wehrpflicht freikaufen. Für die gesamten 24 Monate kostet das 15 Millionen armenische Dram (34.400 Euro). Der Erlass der Hälfte des Wehrdienstes ist günstiger zu haben: 2,5 Millionen Dram (5.700 Euro). Die Regelung gilt nur für Wehrpflichtige, die älter als 27 und bis dahin keinen Dienst an der Waffe geleistet haben. Wer jünger ist, muss auf jeden Fall zur Armee.

Der Soziologe Arthur Atanasyan von der staatlichen armenischen Universität in Jerewan diagnostiziert nach den Kriegen gegen Aserbaidschan ein tief sitzendes Trauma in der armenischen Gesellschaft. Dass nach aktuellen Meinungsumfragen nur eine Minderheit der Armenier ihrem Ministerpräsidenten in der Annäherung folgen mag, liege an dem tief sitzenden Misstrauen gegenüber dem Nachbarland. „Die aserbaidschanische Propaganda arbeitet auf Hochtouren“, sagt Atanasyan gegenüber loyal, „sie machen alles, was wir damals nicht getan haben, als wir die Sieger waren: Herabwürdigung des Gegners und Säen von Hass.“ Und er fügt hinzu: „Frieden heißt, dass beide Seiten dazu bereit sind. Wir sind bereit. Aserbaidschan ist es nicht.“ Darum seien praktisch alle Teile der armenischen Gesellschaft skeptisch, was den Friedensprozess angeht.
Ministerpräsident Paschinjan scheint die Ablehnung im Volk nicht anzufechten. Er will im Juni kommenden Jahres die nächste Parlamentswahl gewinnen, um dann in einem Referendum über eine neue Verfassung abstimmen zu lassen. Denn ein Artikel aus der bisherigen Verfassung ist das schwerwiegendste Hindernis für einen Friedensvertrag mit Aserbaidschan: Der Artikel nimmt Bezug auf die Unabhängigkeitserklärung von 1990, in der von einer Vereinigung Armeniens mit Bergkarabach die Rede ist. Dies ist für Aserbaidschan nicht akzeptabel. Wie die Wahl 2026 und – falls es dann stattfindet – das Referendum ausgehen werden, ist völlig offen.
„Wir tragen unsere Isolation mit uns“
Die junge Generation setzt auf einen dauerhaften Frieden. „Frieden ist die Voraussetzung für die Entwicklung unseres Landes“, sagt Greta Gevorgyan. Die 28-Jährige hat einen Bachelor in Politischen Wissenschaften und einen Master in Menschenrechten und Demokratisierung des Kaukasus an der staatlichen Universität Jerewan erworben. Sie arbeitet für eine Stiftung. Auch sie glaubt nicht, dass Aserbaidschan wirklich zum Frieden bereit sei. Andererseits weiß sie, dass es ohne einen Frieden keine EU-Perspektive für Armenien gibt. Armenien strebt eine EU-Mitgliedschaft an; erst im März hat das Parlament ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Russland nannte das Gesetz ein „Ticket für die Titanic“. Armenien ist wirtschaftlich stark abhängig von Russland, das das Land mit Gas versorgt und große Teile der Infrastruktur betreibt. Zuletzt näherte sich Armenien Russland wieder an.

Fühlen sich Armenier überhaupt als Europäer? Greta Gevorgyan wird nachdenklich. 70 Jahre lang war Armenien Teil der Sowjetunion. „Wir haben ein eigenes Bewusstsein. Wir sind die Brücke zwischen Europa und Asien“, sagt die junge Frau schließlich. Wenn Greta Gevorgyan ihre Generation in Armenien mit Gleichaltrigen in Deutschland, Frankreich oder Italien vergleicht, fällt ihr auf: „In Europa sind junge Leute stark auf sich bezogen, auf ihre Karriere, auf die Frage, wohin sie als nächstes reisen. In Armenien ist der Einzelne immer mit unserer Nation verbunden. Wir haben eine eigene Kirche, eine eigene Schrift, eine eigene Sprache. Wir Armenier verstehen uns als Teil eines großen armenischen Ganzen, wir tragen unsere Geschichte und unsere Isolation stets mit uns.“
In der Tat: Armenien ist isoliert, nicht nur sprachlich, kirchlich und kulturell, sondern auch geografisch. Auf dem Landweg kann man das Land nur über den Iran oder Georgien verlassen. Die langen Grenzen zu den muslimischen Erzfeinden Türkei und Aserbaidschan sind geschlossen. Der Politologe Richard Giragosian sieht Armenien dennoch vor einer guten Zukunft – zumal im Vergleich zu Aserbaidschan: „In Armenien wächst eine Generation von IT-Experten heran, die Künstliche Intelligenz weiterentwickeln, die mutig sind, die unternehmerisch denken und die durch die weltweite armenische Diaspora global ausgerichtet sind. Aserbaidschan hingegen setzt auf Öl- und Gasexport. Aber das ist schon heute die Welt von gestern.“