Feuchtgebiete gegen den Aggressor
Der Norden der Ukraine wird von einer natürlichen Barriere gegen einen Vorstoß russischer Invasionstruppen geschützt: ausgedehnte Sümpfe. Feuchtgebiete stellen in Kriegszeiten seit Jahrhunderten wichtige Bollwerke gegen Aggressoren dar. Nun erwägt auch Polen, sich die Natur bei der Landesverteidigung zum Bündnispartner zu machen.
Der ukrainische Ökologe Professor Dr. Bohdan Prots war kurz vor dem russischen Überfall Anfang 2022 zu Forschungsarbeiten in den Schutzgebieten rund um das frühere Atomkraftwerk Tschernobyl unterwegs, um alte Baumbestände zu untersuchen. Das Gebiet liegt nördlich von Kyjiw am Prypjat-Fluss und ist von Sümpfen geprägt. Aus nächster Nähe sah der langjährige Leiter eines großen Naturschutzprojekts auf weißrussischer Seite Truppenbewegungen. Er bekam es mit der Angst zu tun.
Westliche Regierungschefs versuchten in jenen Tagen reihum, den russischen Präsidenten Wladimir Putin noch von einem Angriff abzuhalten. Prots ist kein Militärstratege. Aber bei seiner Forschungsexpedition in die Prypjat-Sümpfe stellte er sich vor, wie es wäre, wenn die ukrainische Regierung zur Abwehr einer Invasion Straßen und Brücken, die durch die weitläufigen Feuchtgebiete führen, sprengen würde und einige Dämme gleich mit, um trockenere Gebiete zu überfluten. Wenig später sollte genau ein solches Vorgehen am weiter südlich gelegenen Fluss Irpin Kyjiw davor retten, von russischen Truppen überrannt zu werden.
Als sich die Angreifer Ende Februar 2022 von Norden her schnell der ukrainischen Hauptstadt näherten, befahl die Militärführung, unmittelbar am Nordrand von Kyjiw zuerst ein kleines Loch in den Damm des Irpin zu sprengen, um die Talaue zu überschwemmen und so den Vorstoß des Feindes zu behindern. Anfang März ließ man dem Wasser dann freien Lauf; ein riesiges Überschwemmungsgebiet entstand.
Zu Sowjetzeiten war der Irpinfluss massiv umgebaut worden, die Talauen trockengelegt. In neuerer Zeit hatte es Pläne gegeben, den Unterlauf vollständig zu bebauen. Doch nun zeigte sich der große Wert des quasi über Nacht wiederhergestellten Sumpfs. Der russische Vormarsch kam ins Stocken, Panzer sanken im morastigen Untergrund ein. Wenig später beendeten die Russen ihren Vorstoß in der Region. Lokale Umweltschützer fordern seither, den Irpin in „Helden-Fluss“ umzubenennen, weil er bei der Verteidigung der Hauptstadt so wichtig gewesen sei wie die Kämpfer der Armee. Er sollte dauerhaft als Feuchtgebiet geschützt werden.

Ökologe Prots setzt sich seither dafür ein, die Natur gezielt zur Abwehr des Feindes zu nutzen, indem bestehende Feuchtgebiete bewahrt, trockengelegte renaturiert und neue geschaffen werden – als „grüner Schutzschild“. Diese Idee wirkt neu, hat aber eine erstaunlich lange Vorgeschichte. Moore, Auwälder, Sümpfe und andere Feuchtgebiete erstreckten sich früher in ganz Europa über riesige Flächen. Die Menschen sahen sie als ebenso feindseliges wie nutzloses Land an, das es zu kultivieren galt.
Zuerst waren es Könige und Kaiser, später machten es sich die Bürokraten der Wasserwirtschaft zur Aufgabe, Feuchtgebiete mit Gräben zu durchziehen, mit Deichen gegen Flüsse abzugrenzen, sie zu entwässern, trockenzulegen, mit Siedlungen und Äckern zu überziehen. Regierungen und Landwirte, in jüngster Zeit auch Raumplaner, haben diese innere Landgewinnung über Jahrhunderte bis in unsere Tage hinein als Sinnbild des Fortschritts angesehen und vorangetrieben. Man denke nur an das Mammutprojekt der Trockenlegung des Oderbruchs, wo auf Befehl des Preußenkönigs Friedrichs des Großen Mitte des 18. Jahrhunderts 33 neue Siedlungen entstanden.
Nicht nur in weiten Teilen Europas, sondern in der ganzen Welt wurden und werden Feuchtgebiete in rasendem Tempo zerstört. Musonda Mumba, Generalsekretärin der Ramsar-Konvention der Vereinten Nationen zum Schutz von Feuchtgebieten, sagt: „Wir haben allein seit 1970 weltweit mehr als ein Drittel unserer Feuchtgebiete verloren.“ Die Zerstörung von Mooren, Sümpfen, Quellgebieten und Flussauen schreitet dreimal so schnell voran wie die Abholzung von Regenwäldern. Erst seit wenigen Jahren setzt ein Umdenken ein. Wissenschaftler haben herausgefunden, welche gigantischen Mengen Kohlenstoff aus Jahrtausenden Pflanzenwachstum in den Böden unter Feuchtgebieten schlummern. Zudem sind Auwälder, Moore und Sümpfe Lebensraum für eine große Zahl von Arten.
Militärische Rolle von Feuchtgebieten
Landnutzung versus Naturschutz – das ist die eine Geschichte der Feuchtgebiete. Die andere, weniger bekannte ist, dass Feuchtgebiete über Jahrhunderte hinweg in der Verteidigung und auch bei Angriffen eine wichtige militärische Rolle gespielt haben. Denn diese Gebiete hatten schon immer eines gemeinsam: Sie sind kaum passierbar. Jeder Schritt mit Soldatenstiefeln fühlt sich an, als wäre die Schwerkraft größer. Armeen kommen kaum voran, Feldlager zu bauen ist fast unmöglich, schweres Gerät hat keine Chance. Schiffe und selbst Amphibienfahrzeuge nützen wenig bis nichts. Sind Straßen und Brücken zerstört, geht zu Lande nichts mehr. Wenn eine Armee im Schlamm einer Flussniederung feststeckt – wie die Franzosen 1954 in Indochina in der Schlacht von Dien Bien Phu – kann das die Niederlage besiegeln.
Carl von Clausewitz blickte in seinem Werk „Vom Kriege“ Anfang des 19. Jahrhunderts bereits auf die Rolle von Feuchtgebieten in früheren Konflikten zurück, als er die „Eigentümlichkeit von Morästen“ beschrieb, kaum überwindbar zu sein. Er nannte auch schon Beispiele, wo gezielt Überschwemmungen herbeigeführt wurden. Heute können die Experten des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) in Potsdam auf Anfrage eine Reihe von Beispielen für die strategische Rolle von Feuchtgebieten nennen.

So wurden bestehende Feuchtgebiete schon länger in die Planung von Befestigungsanlagen einbezogen – in der Frühen Neuzeit etwa in Greifswald und Demmin. Zum ersten Mal nutzten in den Niederlanden Rebellen, die gegen die spanische Krone aufbegehrten, im Jahr 1584 das Mittel der „strategischen Überflutungen“, indem sie Deiche zerstörten und weite Teile der Landschaft unter Wasser setzten. Ihr Ziel, Antwerpen, Brügge und Gent vor der Wiedereroberung durch die Spanier zu bewahren, erreichten sie mit der „Niederländischen Wasserlinie“ zwar nicht, sie schufen aber ein Vorbild für spätere Zeiten.
Als dann 1672 die französische Armee in Richtung Flandern vorrückte, ließen holländische Kommandeure an mehreren strategisch wichtigen Orten – zum Beispiel bei Sas van Gent – Schleusen öffnen, um den Vormarsch des Gegners zu stoppen. Daraus entwickelten sich im 18. Jahrhundert ausgeklügelte Methoden, das Netz aus Kanälen und Schleusen für die Landesverteidigung einzusetzen. Nach Zählungen von Umwelthistorikern geschah dies insgesamt elfmal, zuletzt im Ersten und im Zweiten Weltkrieg.
Wasser als Waffe
Wie nicht anders zu erwarten, können auch Aggressoren das Mittel nutzen. In Deutschland betrieben die Nationalsozialisten in großem Stil die Trockenlegung von Mooren, um Agrarland zu gewinnen. Dasselbe planten sie in den vorgesehenen Agrarkolonien im eroberten Osteuropa. Doch als sich im Krieg das Blatt gegen sie wendete, ließen sie 1943 die Pontinischen Sümpfe südlich von Rom überfluten, um den Vormarsch der Alliierten aus Richtung Süden aufzuhalten. Die Wehrmacht zerstörte Pumpwerke, Dämme und Kanäle, und löste eine Malariawelle aus. Den Alliierten gelang es schließlich doch, die durch das Gebiet führende Schnellstraße instand zu setzen und für ihren Vormarsch auf Rom zu nutzen.
Im aktuellen Ukraine-Krieg markierte der Bruch des Kachowka-Staudamms am Strom des Strom des Dnipro (russisch: Dnjepr) im Juni 2023 einen vergleichbaren Fall, bei dem Wasser sogar als Angriffswaffe eingesetzt wurde. Internationale Experten gehen davon aus, dass russische Truppen durch eine Sprengung im Inneren der Anlage den Damm zum Bersten gebracht haben. Dies hatte zwar keinen erkennbaren militärischen Vorteil, führte aber flussabwärts zu einer humanitären und ökologischen Katastrophe.

In der Ukraine und auch in Polen wird nun verstärkt darüber nachgedacht, die Renaturierung umgekehrt als Mittel der Verteidigung gegen den russischen Aggressor einzusetzen. Ermutigt vom Beispiel der Irpin-Auen hat die ukrainische Armee im weiteren Verlauf des Krieges in den weitläufigen Sümpfen der Grenzregion zu Weißrussland Brücken gesprengt. Das ist dem Ökologen Bohdan Prots zufolge einer der wesentlichen Gründe dafür, dass die Russen seither keinen weiteren Vorstoß von Norden her unternommen haben. „Die Nutzung von Feuchtgebieten als Abschreckmittel und Barrieren funktioniert“, erklärt er. Der frühere Gewinner des auch „Grüner Oscar“ genannten Whitley Award schlägt jetzt vor, das Konzept zu erweitern. Er hält es für notwendig, systematisch Dämme zu beseitigen sowie früher trockengelegte Gebiete wieder unter Wasser zu setzen: „Mit gut geplantem Naturschutz kommt man am besten und schnellsten zu renaturierten Landschaften, die zugleich reich an Biodiversität sind und den Feind effizient abhalten.“ Dem stimmt der Zoologe Oleksii Vasyliuk von der Nichtregierungsorganistion Ukrainian Nature Conservation Group zu: „Je besser die Naturlandschaften erhalten werden, desto mehr Wasser werden sie speichern und desto besser werden sie die Ukraine vor militärischen Angriffen schützen.“
Grenzsicherung durch Renaturierung
Auch im Nachbarland Polen ist über diesen Ansatz eine Debatte entbrannt. Die Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk möchte den sogenannten „Östlichen Schild“ ausbauen, mit dem sie das Land gegen eine mögliche weißrussische oder russische Aggression schützen will. Bisher kommen hauptsächlich Methoden zum Einsatz, die nicht nur bei Menschenrechtsgruppen, sondern auch bei Naturschützern große Sorgen auslösen: der hohe Grenzzaun durch das ökologisch wertvolle Waldschutzgebiet von Białowieża, der Tierpopulationen voneinander trennt.
In die Debatte hat sich vor einem Jahr der Ausschuss für Umwelt- und Evolutionsbiologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften eingeschaltet. Renaturierung, heißt es in einer Stellungnahme, „hat ein großes Potenzial, die Grenze zu sichern und die Bedrohung durch militärische Angriffe zu verringern, während gleichzeitig die Umwelt- und Naturwerte dieser Gebiete erhalten und sogar erhöht werden“. Konkret schlagen die Wissenschaftler vor, in den Grenzgebieten den Grundwasserspiegel anzuheben, Überschwemmungsgebiete zu erweitern, natürliche Feuchtgebiete wiederherzustellen und wilde Wälder wachsen zu lassen: „Diese Lösungen können eine bedeutende Barriere gegen militärische Angriffe sein.“ Renaturierung wird damit zum Werkzeug der Landesverteidigung – ein Novum. Die polnische Regierung zeigt Interesse an dem Plan.
Über Jahrhunderte galten Feuchtgebiete als Gegner, die man bezwingen muss. Vorstöße, sie zu revitalisieren –wie es das Renaturierungsgesetz der EU vorsieht –, wurden von der Agrarlobby bekämpft. Doch immer mehr zeigt sich, dass Feuchtgebiete in Wahrheit wichtige Alliierte sind: beim Klimaschutz, beim Schutz der Artenvielfalt – und nicht zuletzt bei der Verteidigung gegen Aggressoren.
Der Autor
Christian Schwägerl ist Journalist und Buchautor mit den Schwerpunkten Biologie, Geologie, Klima und Energie.