DAS MAGAZIN

Monatlich informieren wir unsere Mitglieder mit der loyal über sicherheitspolitische Themen. Ab sofort können Mitglieder auch im Bereich Magazin die darin aufgeführten Artikel lesen!

Mehr dazu
DER VERBAND

Der Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr (VdRBw) hat mehr als 115.000 Mitglieder. Wir vertreten die Reservisten in allen militärischen Angelegenheiten.

Mehr dazu
MITGLIEDSCHAFT

Werden Sie Teil einer starken Gemeinschaft

Mehr dazu

loyal

„Armenien hält sich mit Russland eine Option offen“




Das Genozid-Mahnmal in Jerewan erinnert an den Völkermord an den Armeniern 1915 im Osmanischen Reich. Es ist die bedeutendste Erinnerungsstätte im Land. Im Untergrund befindet sich eine Dokumentationsstätte zum ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts.

Foto: Stephan Pramme

armenienloyal

Das Land im Südkaukasus zögert mit einem EU-Beitritt. Ministerpräsident Nikol Paschinjan laviert zwischen Moskau und Brüssel. In Bezug auf Aserbaidschan bleiben in Armenien trotz weitgehenden Entgegenkommens Zweifel am Friedenswillen des Gegners. Im loyal-Interview analysiert die Armenien-Expertin Tessa Hofmann die komplexe Gemengelage in der Region.

Im September jährt sich der Verlust des Gebiets Bergkarabach zum zweiten Mal. Was bedeuten die Eroberung des Gebiets durch Aserbaidschan und die Vertreibung der dort lebenden Armenier?
Für die Armenier ist es ein weiterer Verlust innerhalb von 110 Jahren. Armenien hat durch den Genozid 1915 im Osmanischen Reich einen Großteil seiner Bevölkerung und 90 Prozent seines Siedlungsgebiets verloren. Derzeit besteht keine Aussicht, dass die 2023 vertriebene Bevölkerung aus Bergkarabach in ihre Heimat zurückkehren kann. Die Vertriebenen möchten in Freiheit, Sicherheit und Selbstbestimmung zurückkehren. Dass das passieren könnte, ist nicht erkennbar. Die Regierung Armeniens ist daran im Übrigen auch gar nicht interessiert. Kürzlich hat der armenische Außenminister in einer Fragestunde im Parlament behauptet, dass Armenien Bergkarabach niemals als Bestandteil des eigenen Landes anerkannt und auch nie eine Vereinigung mit dem Gebiet angestrebt hat.

Welche Informationen haben Sie über die momentane Situation in Bergkarabach?
Es gibt noch einen einzigen gichtkranken alten Armenier, der in Stepanakert, der Hauptstadt von Bergkarabach, lebt. Er wird regelmäßig von aserbaidschanischer Seite in den sozialen Netzwerken vorgeführt. Etwa 120.000 Armenier sind 2023 innerhalb weniger Tage vertrieben worden. Sie sind entweder nach Armenien, nach Georgien oder nach Russland geflüchtet. Das Land ist ansonsten weitgehend entvölkert.

Wer lebt denn jetzt in Bergkarabach?
Bergkarabach war nach der Vertreibung zunächst vollkommen menschenleer. Die inzwischen dort angesiedelte Bevölkerung soll vor allem aus aserbaidschanischen Militärs und deren Familien bestehen. Ein Problem scheint die Verminung des Gebiets zu sein. Während des mehr als 30 Jahre andauernden Konflikts wurden von beiden Seiten Minen gelegt, wobei Aserbaidschan die Verminung heute einseitig den Armeniern anlastet.

In den vergangenen Monaten war immer wieder von einem Friedensvertrag mit Aserbaidschan die Rede. Welche Chancen hat ein dauerhafter Frieden in der Region?
Aserbaidschan hat immer wieder Zusatzforderungen erhoben – unter anderem die Auflösung der Minsker Gruppe, eines Vermittlungsgremiums der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Ferner den Abzug der EU-Beobachtermission und eine neue armenische Verfassung. All dem hat die armenische Regierung zugestimmt, aber es ist unklar, ob die aserbaidschanische Regierung überhaupt gewillt ist, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen oder ob sie seine Unterzeichnung weiterhin als Druckmittel benutzen möchte. Selbst wenn der Vertrag unterzeichnet würde, bringt er ja nicht per se den Frieden. Verträge können jederzeit gebrochen werden, wie wir wissen. Es geht also eher darum, wie man die Sicherheit für Armenien erhöhen kann. Nach jüngsten Statistiken steht Aserbaidschan an weltweit 16. Stelle der Länder mit den größten Militärimporten. Es kauft in Russland, dem billigsten Anbieter, das grundlegende Material ein. Technisch anspruchsvollere Waffen wie Drohnen deckt es zu 72 Prozent bei Israel, der Rest kommt aus der Türkei. Es rüstet gegenwärtig massiv hoch – und man darf sich fragen: zu welchem Zweck?

Der armenische Ministerpräsident Paschinjan fährt eine Politik des Schlussstrichs unter die Vergangenheit. Weder soll Bergkarabach künftig im Verhältnis zu Aserbaidschan eine Rolle spielen noch der Genozid an den Armeniern 1915 im Osmanischen Bereich, um das Verhältnis zur Türkei zu entspannen. Wie würden Sie diese Politik bezeichnen?
Es ist eine Kehrtwende um 180 Grad in der Geschichts- und Erinnerungspolitik. Dazu gehört auch, dass das im letzten Jahrhundert verlorene Siedlungsgebiet in Anatolien offiziell nicht mehr als Westarmenien sondern nur noch als historisches Siedlungsgebiet bezeichnet wird – immerhin war es ja 90 Prozent des armenischen Siedlungsgebiets insgesamt. Durch die Ereignisse in Bergkarabach ist von den verbleibenden zehn Prozent ein weiteres Drittel verloren gegangen. Den kleinen Rest bildet die Republik Armenien. Paschinjan fordert sein Volk auf, nicht länger in die Vergangenheit zu schauen, nicht länger die Verluste zu betrachten, sondern in die Zukunft zu blicken.

Ein armenisches Paar betrachtet am Genozid-Mahnmal die ewige Flamme und gedenkt seiner ermordeten Landsleute. (Foto: Stephan Pramme)

Tut das die Bevölkerung? Folgt sie dem Ministerpräsidenten? Die Zustimmungswerte zur Regierung Paschinjan sind zur Zeit sehr gering…
Nicht nur für Paschinjan sind die Zustimmungswerte niedrig, sondern mehr noch für die Opposition. Niemand in der armenischen Politik hat eine überzeugende Alternative. Eine Alternative zu formulieren ist, man muss es fairerweise sagen, auch außerordentlich schwer. Das Land ist eingeklemmt zwischen feindlichen Nachbarn – der Türkei und Aserbaidschan. Die Menschen sehen deshalb in Paschinjan und seiner Politik von allen Übeln das geringste. Er blickt zumindest in die Zukunft und versucht, eine Perspektive für das Land zu entwickeln.

Das heißt, es ist trotz schwacher Zustimmung aktuell nicht unwahrscheinlich, dass Paschinjan die Parlamentswahl im Juni 2026 gewinnt und dann das Referendum über die neue Verfassung abhalten kann, die die Voraussetzung für einen Friedensvertrag darstellt?
Das ist nicht ausgeschlossen. Angesichts all der Überraschungen, die wir in der Politik in letzter Zeit erlebt haben, bin ich mit Vorhersagen allerdings vorsichtig. Ich sehe jedenfalls keine überzeugende Alternative.

Russland war lange Zeit die Schutzmacht Armeniens. Doch die Russen haben die Republik Armenien und Bergkarabach während der letzten Angriffe Aserbaidschans 2020, 2022 und 2023 im Stich gelassen. Dennoch gibt es immer noch russische Truppen in der Republik Armenien. Wie sieht die Russlandpolitik Armeniens aus und welche Abhängigkeiten bestehen von Moskau?
Armenien nähert sich aktuell Russland wieder an. Paschinjan war am 9. Mai bei der Parade zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Er wird dabei sicher auch mit Putin gesprochen haben. Er hält sich auf jeden Fall mit Russland eine Option offen. Aus armenischer Sicht und angesichts der geopolitischen Lage im Südkaukasus ist das nicht verkehrt. Es ist zumindest eine historisch bewährte Vorgehensweise, multipolar zu agieren, gesprächsbereit zu sein und in den regionalen Hegemonialmächten Mediatoren zu sehen.

Die Regierung hat einen weitgehenden Vorschlag unter dem Titel „Crossroads of Peace“ gemacht, der den Bau beziehungsweise die Ertüchtigung zahlreicher Straßen und Bahnlinien kreuz und quer durch Armenien vorsieht, um das bislang weitgehend isolierte Land als Drehscheibe im Südkaukasus zu etablieren. Dazu müssten die Grenzen zu Aserbaidschan und der Türkei geöffnet, ja überhaupt erst einmal diplomatische Beziehungen zu den beiden Nachbarn aufgenommen werden. Wie realistisch ist dieser Plan?
Das ist ein Projekt der Regierung Paschinjan, um den Menschen den Glauben an die Zukunft zu vermitteln. Es ist aber aus heutiger Perspektive illusorisch. Armenien war in früheren Zeiten in seinem Siedlungsgebiet durchaus ein Durchgangsland – aber stets unter der Kontrolle der Hegemonialmächte, erst des Osmanischen Reichs, später des Russischen Reichs. In der Gegenwart spielt eher Georgien aufgrund seiner geografischen Lage mit der Anbindung an das Schwarze Meer oder selbst Aserbaidschan mit seiner Anbindung an das Kaspische Meer die Rolle eines Drehkreuzes.

Welche Rolle spielt die Europäische Union in und für Armenien – und welche Rolle Armenien für die EU?
Eine zentrale Frage in der armenischen Geschichte ist die Frage, wer den Armeniern als Schutzmacht beistehen kann. Armenien verbindet mit Europa die Hoffnung, in der EU eine Schutzmacht zu finden. Die EU andererseits hat an Armenien nur ein einziges Interesse, nämlich die Zurückdrängung des russischen und iranischen Einflusses im Südkaukasus. Die EU ist im Übrigen gar nicht in der Lage, Armenien zu schützen. Sie ist militärisch schwach und hat genügend eigene Probleme. Die Erkenntnis der Schwäche Europas ist sicher auch ein Grund dafür, warum die armenische Regierung sich neuerdings wieder Russland zuwendet.

Dr. Tessa Hofmann ist Armenologin und Soziologin mit Schwerpunkt Genozid-Forschung. Sie war bis zu ihrem Ruhestand wissenschaftliche Mitarbeiterin am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. In der Gesellschaft für bedrohte Völker ist sie als Armenien-Koordinatorin ehrenamtlich tätig. (Foto: privat)

Was aber ist mit einem Beitritt zur EU?
Armenien könnte den Antrag auf EU-Mitgliedschaft stellen, tut es aber nicht. Das liegt daran, dass es, wie bereits erwähnt, momentan zurückkehrt zu einer multipolaren Außenpolitik und auch wieder Beziehungen zu Russland sucht.

Welche Bedeutung hat das nach Russland abdriftende Georgien für eine Aufnahme Armeniens in die EU? Ist ein Beitritt zur EU nur gleichzeitig mit Georgien denkbar?
Es ist durchaus möglich, Armenien unabhängig von Georgien in die EU aufzunehmen. Die EU hat Armenien bereits Zusagen für eine Antragstellung gemacht. Seit 2021 gibt es ein erweitertes Partnerschaftsabkommen mit der EU (CEPA). Armenien könnte sofort einen Antrag auf Mitgliedschaft stellen, dafür sind alle Voraussetzungen gegeben, und das ist nicht abhängig von Georgien. Tatsache ist, dass es den Antrag noch nicht gestellt hat – man will sich eben alle Türen offenhalten.

Wie sehen sich die Armenier eigentlich selbst – definieren sie sich als Europäer?
Geografisch gehört Armenien zum nördlichen Vorderasien, ist also definitiv nicht Europa. Von der Prägung her sind die Armenier des Südkaukasus keine Europäer. Sie gehörten 200 Jahre lang zwar zu einem europäischen Staat, Russland beziehungsweise der Sowjetunion, aber auch dieser Staat war ja nicht ausschließlich europäisch definiert. Armenien ist sowohl-als auch. Es ist unterschiedlich geprägt. Den Armeniern eine eindeutige europäische Identität zuzuschreiben, halte ich für problematisch. Sie tun es selbst auch nicht.

Welche Rolle spielt die große armenische Diaspora?
Von neun bis zehn Millionen Menschen, die sich als Armenier definieren, leben zwei Drittel außerhalb der Republik Armenien. Diese Menschen haben nochmal ganz andere kulturelle Prägungen – sei es, dass sie in den USA geboren und aufgewachsen sind oder in Frankreich, der größten armenischen Gemeinde in Europa, leben. Oder nehmen Sie die zwei bis drei Millionen Armenier in Russland, die größte armenische Diaspora überhaupt weltweit. All diese unterschiedlich geprägten Menschen bringen Identitäten ein, die das Armeniertum enorm erweitern und bereichern.

Wo glauben Sie, wird Armenien in zehn Jahren stehen?
Das wäre das Jahr 2035. Das ist das rechtlich und verwaltungstechnisch frühestmögliche Jahr für einen Beitritt Armeniens zur Europäischen Union. Ich wünsche Armenien, dass es in zehn Jahren die Probleme, die es heute besitzt, in den Griff bekommen hat und keine weiteren Militärangriffe Aserbaidschans befürchten muss.

Verwandte Artikel
loyal

Eingefrorener Konflikt

Fünf Kriege haben Armenien und Aserbaidschan in den vergangenen 35 Jahren gegeneinander geführt. Zunächst war Armenien siegreich, dann Aserbaidschan. Mit...

02.06.2025 Von André Uzulis
loyal

Feuchtgebiete gegen den Aggressor

Der Norden der Ukraine wird von einer natürlichen Barriere gegen einen Vorstoß russischer Invasionstruppen geschützt: ausgedehnte Sümpfe. Feuchtgebiete stellen in...

26.05.2025 Von Christian Schwägerl
loyal

Diplomaten in Uniform

Streitkräfte werden nicht nur zum Kampf eingesetzt. Manchmal sind Soldaten auch in diplomatischer Mission unterwegs. So geschah es im vergangenen...

21.05.2025 Von Julia Weigelt