Krieg als Mittel der Machtsicherung
Während der Westen auf die Ukraine blickt, weitet Israel seinen Gaza-Feldzug immer weiter aus. Die Befreiung der verbliebenen Geiseln spielt dabei eine untergeordnete Rolle.
Mehr als 52.000 Palästinenser sind laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium im Gazastreifen bei israelischen Angriffen bisher getötet worden. Mitte März brach die im Januar verhandelte Waffenruhe. Eigentlich sollte ein drei-Stufen-Plan für einen dauerhaften Waffenstillstand sorgen. Die erste Stufe sah eine vollständige Waffenruhe sowie den Rückzug Israels aus den dicht besiedelten Gebieten im Gazastreifen vor. Den dort lebenden Palästinensern sollte die Rückkehr in ihre Häuser ermöglicht werden. Im Gegenzug war die Freilassung weiterer israelischer Geiseln geplant – insbesondere von Frauen, Kranken und älteren Menschen. Außerdem war vorgesehen, mehrere hundert in Israel inhaftierte Palästinenser zu entlassen. In der zweiten Phase sollten Vereinbarungen getroffen werden, um die Kämpfe dauerhaft zu beenden. Alle noch lebenden Geiseln wären freigekommen, während sich Israel vollständig aus dem Gazastreifen zurückgezogen hätte. Die Hamas bestand im Gegenzug auf die Freilassung weiterer palästinensischer Gefangener aus israelischen Gefängnissen. In der abschließenden dritten Phase war die Übergabe der Leichen getöteter Geiseln an ihre Familien vorgesehen, ebenso wie der Beginn des Wiederaufbaus im Gazastreifen.
Nachdem die erste Stufe die Waffenruhe erfolgreich einleitete, kamen die Verhandlungen bei der zweiten Stufe ins Stocken. Indem Israel die Hilfslieferungen in den Gazastreifen blockierte und das Küstengebiet von der Stromzufuhr abschnitt, wollte es die Hamas dazu drängen, einem neuen Vorschlag zuzustimmen, der von dem ursprünglich vereinbarten Plan abwich. Im Gegenzug für eine weiterbestehende Waffenruhe und Verhandlungen über einen dauerhaften Waffenstillstand, forderte Israel die Freilassung aller israelischer Geisel. Die Freilassung palästinensischer Gefangener – einer Kernforderung der Hamas – fand in dem neuen Plan keine Erwähnung. Die Hamas lehnte ab, woraufhin Premierminister Benjamin Netanjahu die Waffenruhe als gescheitert erklärte. Bereits in der ersten Nacht starben laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium 400 Palästinenser im Gazastreifen durch die erneuten israelischen Angriffe.
Seitdem spitzt sich die Lage dramatisch zu. Hinter der militärischen Eskalation offenbaren sich jedoch Interessen, die weit über die Befreiung von Geiseln hinausgehen: Es geht um politische Macht, territoriale Kontrolle – und internationale Rückendeckung.
Gazastreifen: Die humanitäre Katastrophe spitzt sich zu
Seit Anfang März blockiert Israel den Zugang humanitärer Hilfsgüter in den Küstensteifen, um die Freilassung der verbliebenen israelischen Geiseln zu erzwingen. Nahrungsmittel, Medikamente und Treibstoff werden knapp. Durch den Triebstoffmangel können die Wasseraufbereitungsanlagen nicht mehr betrieben werden – selbst Trinkwasser wird zu Mangelware. Die wenigen verbliebenen Lebensmittel sind für hunderttausende Geflüchtete ohne Einkommen und Bargeld unbezahlbar.

Auf der ägyptischen Seite der Grenze warten 100.000 Tonnen Lebensmittel und Hilfsgüter – laut dem Welternährungsprogramm genug, um eine Millionen Menschen vier Monate lang zu versorgen. Vertreter der Vereinten Nationen warnen vor einem langsamen Sterben der Zivilbevölkerung. In einer gemeinsamen Erklärung im Namen der ehemaligen deutschen Außenministerin und der Außenminister Frankreichs und des Vereinigten Königreichs zu Gaza Ende April heißt es: „Die israelische Entscheidung, die Einfuhr von Hilfsgütern in den Gazastreifen zu blockieren, ist nicht hinnehmbar. […] Israel ist nach dem Völkerrecht verpflichtet, die ungehinderte Durchleitung humanitärer Hilfe zu gestatten.“ Seit Ende April beschäftigt sich auch der Internationale Gerichtshof mit der israelischen Blockade.
Netanjahus Kalkül: Krieg als Überlebensstrategie
Die neue Eskalation nahm ihren Anfang in einer Phase massiver innenpolitischer Schwäche Netanjahus. Anfang März 2025 stand seine Regierung am Rand des Zusammenbruchs: Mit dem Austritt der rechtsextremen Partei Otzma Yehudit aus der gemeinsamen Koalition hatte Netanjahu seine parlamentarische Mehrheit faktisch verloren. Der Koalitionspartner hatte die Regierung aus Protest gegen die im Januar verhandelte Waffenruhe verlassen. Ohne seine Stimmen war die Koalition handlungsunfähig. Gleichzeitig sahen Umfragen Netanjahus Likud-Partei knapp hinter der Opposition, angeführt vom ehemaligen Premierminister Naftali Bennett, während Netanjahus Korruptionsprozess erneut Schlagzeilen machte.
Der Krieg bot eine Flucht nach vorne. Er verschob den Fokus der öffentlichen Debatte von Netanjahus juristischen Problemen zurück auf das Thema nationale Sicherheit. Zugleich bot die Offensive einen willkommenen Anlass für Otzma Jehudit, in die Koalition zurückzukehren. Erst dadurch konnte der Haushalt am 31. März verabschiedet werden – ein entscheidender Moment. Wäre dies nicht gelungen, wäre das israelische Parlament, die Knesset, automatisch aufgelöst worden und Israel hätte Neuwahlen abhalten müssen. Angesichts der damaligen Umfragen wäre dies einem politischen Todesurteil Netanjahus gleichgekommen.
Israels Interesse: Dauerhaften Einfluss in Gaza sichern
Anfang Mai stimmte das israelische Sicherheitskabinett einem Plan zu, der den Gaza-Feldzug gegen die Hamas verschärft. Premierminister Benjamin Netanjahu kündigte eine „kraftvolle Operation“ zur Zerschlagung der Hamas an. In einer Videoansprache gab er zudem bekannt, dass Israel nicht länger beabsichtige, sich wieder aus dem Küstengebiet zurückzuziehen – im Gegenteil. Verteidigungsminister Israel Katz hatte bereits vor Monaten angekündigt, Israel solle die dauerhafte Kontrolle über die eroberten Gebiete behalten. Die rund 2,1 Millionen Einwohner Gazas würden in sogenannte Sicherheitszonen „verschoben werden“, erklärte Netanjahu. Dort erhielte sie dann auch Zugang zu humanitären Hilfsgütern.

Scharfe Kritik kommt von Amnesty International, das in dem Vorhaben einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Völkerrecht sieht. Die israelischen Pläne bedeuteten „Annexion und Massenvertreibung“ – Maßnahmen, die laut Amnesty den Kriegsverbrechen der rechtswidrigen Vertreibung oder Deportation gleichkämen. Das Hostages and Missing Families Forum in Israel kritisiert unterdessen, die Regierung setze auf Territorien statt auf Geiseln – entgegen dem Willen der Mehrheit der israelischen Bevölkerung.
Israels Problem: Die Unterstützung Washingtons bröckelt
Ein entscheidender Hebel für Israels Vorgehen war bisher die Unterstützung durch die neue Trump-Administration. Doch diese bröckelt. Erstmals seit Beginn seiner Amtszeit hat US-Präsident Donald Trump Mitte Mai öffentlich ein Ende des Gaza-Kriegs gefordert – und dieses Ziel mit der Freilassung aller Geiseln verknüpft. In einer Erklärung zur angekündigten Freilassung des israelisch-amerikanischen Soldaten Edan Alexander aus der Geiselhaft, sprach Trump von einem „Schritt im guten Glauben gegenüber den Vereinigten Staaten“, ohne Israel als beteiligte Partei zu erwähnen. Die Freilassung wird von Experten als gezielte diplomatische Geste der Hamas gegenüber den USA gewertet. In seiner Erklärung lobte Trump die Rolle von Katar und Ägypten als Vermittler. Dass Israel bei der Freilassung offenbar nicht eingebunden war, werteten Beobachter als diplomatischen Affront – und als Hinweis darauf, dass Washington bereit ist, auch ohne Jerusalem aktiv Einfluss auf die Lage in Gaza zu nehmen. Auch mit den Huthis im Jemen verständigte sich die Trump-Administration vor Kurzem, ohne Israel zu berücksichtigen. Die Terrormiliz stellt ihre Angriffe auf die Handelsschifffahrt am Horn von Afrika ein, dafür beenden die USA ihre Bombenkampagne, verkündete Trump. Davon, dass die Huthis ihre Raketenangriffe auf Israel einstellen, war nicht die Rede. Vermittler der Waffenruhe war der Oman.
Mit der Hamas führen die USA wohl bereits direkte Gespräche, wie ein ranghoher palästinensischer Funktionär gegenüber der Reuters äußerte. Laut einem Hamas-Offiziellen könnte noch Mitte Mai ein 90-tägiger Waffenstillstand und die Freilassung von 13 Geiseln vereinbart werden – sowohl lebende als auch tote. Der US-Sondergesandte Adam Boehler, zuständig für Geiselfragen, hatte bereits im März direkte Kontakte zur Hamas aufgenommen. Im April erklärte er gegenüber Al Jazeera, ein erneuter Militäreinsatz in Gaza werde sofort enden, sobald die verbliebenen Geiseln freikämen.
Trumps öffentliche Positionierung – ein Ende des „brutalen Kriegs“ gegen eine vollständige Geiselbefreiung – widerspricht der Strategie der israelischen Regierung unter Benjamin Netanjahu, die auf eine erneute Bodenoffensive setzt. Ein umfassendes Abkommen könnte die Regierungskoalition in Jerusalem destabilisieren, die auf ultra-rechte Kräfte angewiesen ist, die jede Einigung mit der Hamas ablehnen. Trump stellt sich damit demonstrativ an die Seite der israelischen Zivilgesellschaft, von der laut der israelischen Zeitung Haaretz eine Mehrheit den Schutz der Geiseln über militärische Ziele stellt. Ob er diesen Kurs konsequent durchzieht, bleibt abzuwarten – doch seine Worte erhöhen den politischen Druck auf Netanjahu erheblich.