Es ist der 25. Dezember 2024. Die Menschen in Europa feiern Weihnachten. Nicht so die Mitarbeiter von Fingrid. Ihre Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass Strom durch „Estlink 2“ fließt, einem Stromkabel, das in der Ostsee zwischen Estland und Finnland verläuft. Doch plötzlich kommt kein Strom mehr durch das Kabel. Die Fingrid-Mitarbeiter zögern nicht lange – und alarmieren die finnischen Behörden.
Diese bemerken: Der Tanker „Eagle S“ überquerte wenige Minuten zuvor das Seekabel, seine Fahrt weist ungewöhnliche Bewegungen auf. Er fährt einen seltsamen Schlingerkurs. Die finnische Küstenwache reagiert sofort. Sie stoppt die „Eagle S“ noch in den finnischen Küstengewässern und geht an Bord. Die Ermittler stellen fest, dass der Anker fehlt. Der Verdacht: die „Eagle S“ hat mit ihrem Anker das Stromkabel „Estlink 2“ beschädigt. Die finnischen Behörden beschlagnahmen das Schiff. Die „Eagle S“ hat 35.000 Liter Benzin geladen und ist vom russischen Hafen Ust-Luga gestartet. Es zählt zur russischen Schattenflotte.
Kurz darauf wird die finnische Justiz aktiv: Staatsanwälte werfen den Besatzungsmitgliedern der „Eagle S“ schwere Sabotage vor. Acht Besatzungsmitglieder der 24-köpfigen Besatzung aus Georgien und Indien werden vor finnischen Gerichten angeklagt. Fünf durften mittlerweile aus Finnland ausreisen, drei müssen weiterhin in Finnland bleiben.
Schnelle Reaktion
Die Festnahme der Besatzungsmitglieder, die Beschlagnahmung des Schiffs – die finnischen Behörden gingen Ende Dezember vergangenen Jahres schnell und beherzt gegen die „Eagle S“ vor. Vom Auslösen des Alarms bei Fingrid bis zur Festsetzung der „Eagle S“ dauerte es nur wenige Stunden. Nur einen Monat zuvor lief das noch ganz anders.

Am 17. November 2024 meldete der Betreiber des Seekabels „BCS East-West Interlink“ gegen 22 Uhr den Ausfall der Verbindung zwischen Litauen und Schweden. Schiffsverfolgungsplattformen wie „VesselFinder“ zeigten, dass der unter chinesischer Flagge stehende Tanker „Yi Peng 3“ südlich der schwedischen Küste unklare Manöver fuhr. Das Schiff schaltete seine automatische Kennung dabei immer wieder aus. Doch bis die schwedischen Behörden die Jagd aufnahmen, dauerte es. Die „Yi Peng 3“ konnte über Stunden hinweg den Anker hinter sich herschleifen. Er durchtrennte am Morgen des 18. November auch noch „C-Lion1“, ein Internet-Glasfaserkabel. Danach holte die Besatzung den Anker wieder ein. Deutsche, schwedische und dänische Schiffe nahmen die Verfolgung der „Yi Peng 3“ auf, die schließlich dazu bewegt werden konnte, am Kattegat zu ankern. Da sich die „Yi Peng 3“ nun aber in internationalen Gewässern befand, war für die Ermittlungen der Flaggenstaat, also China, zuständig. Chinesische Beamte flogen ein, inspizierten das Schiff und befragten die Besatzungsmitglieder. Vertreter aus Deutschland, Schweden und Finnland konnten die Prozedur nur beobachten. Zwei Tage nach den chinesischen Vernehmungen verließ das Schiff seinen Ankerplatz vor Dänemark und setzte seine Fahrt wie geplant fort. Die Behörden der Anrainerstaaten waren machtlos.
Machtlos waren sie auch beim Vorfall im Oktober 2023 gewesen. Hier war es vermutlich der Tanker „Newnew Polar Bear“, der die Gaspipeline „Balticconnector“ zwischen Finnland und Estland beschädigte. Fotos zeigten damals, dass dem Schiff ein Anker fehlte. Doch als die betroffenen Behörden verstanden, was passiert war, war die „Newnew Polar Bear“ schon nicht mehr in ihrem Zugriffsbereich.
„Sabotage, um uns zu testen“
Die Vorfälle mit gestörten Strom- und Kommunikationskabeln und Schiffen, die einen Anker hinter sich herzogen, häuften sich in den Jahren 2023 und 2024 in der Ostsee. Zufall? Daran glauben die wenigsten. Marineinspekteur Jan Christian Kaack sprach in einem Interview mit loyal davon, dass das Ausrauschen eines Ankers nicht unbemerkt bleiben könne, da dieses ein gewaltiges Getöse verursache. Zudem: Das Hinterherschleifen des Ankers fühle sich für die Besatzung an, als „würden Sie mit einem platten Reifen über die Autobahn fahren“, so Kaack. „Alles spricht dafür, dass die Vorfälle in den vergangenen Monaten gezielte Sabotageaktionen waren, um uns zu testen“, sagt Dr. Sebastian Bruns, Marineexperte am Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel. Das passe ins Muster der hybriden Kriegsführung, mit der die russische Regierung verstärkt gegen westliche Staaten vorgehe. Dass niemand beweisen könne, dass die Kabel vorsätzlich zerstört wurden? Und dass niemand mit Sicherheit sagen könne, dass der Auftrag dazu aus Russland kam? Das ist Teil des russischen Kalküls, so sehen es sowohl Marineinspekteur Kaack als auch Sebastian Bruns.
Die Ostseeanrainerstaaten blieben nicht untätig. Als Antwort auf die Vorfälle startete die NATO im Januar die Mission „Baltic Sentry“. Das Ziel: Sabotage verhindern – oder wenn sie doch passiert, schneller eingreifen können. Laut Informationen des Allied Maritime Command der NATO nehmen an „Baltic Sentry“ 15 Nationen teil. Die Schweden schickten bereits das Patrouillenschiff „Carlskrona“ und eine schwedische Korvette der Visby-Klasse. Die Franzosen – keine Ostseeanrainer wohlgemerkt – das Schiff „Jacoubet“. Die Niederländer ein hydrografisches Vermessungsschiff. Die deutsche Marine (Stand Anfang Mai) beteiligt sich mit dem Minenjagdboot „Datteln“ und der Korvette „Braunschweig“ an der Mission, so ein Pressesprecher der Deutschen Marine. Auch Unter- und Überwasserdrohnen sind laut dem Allied Maritime Command der NATO Teil der Mission. Man könne sich „Baltic Sentry“ wie einen Schirm vorstellen, unter dem die Teilnehmerstaaten wechselnde Fähigkeiten einbringen, so das Maritime Command der NATO auf loyal-Anfrage. Auch die zwei in der Ostsee ständig aktiven NATO-Einsatzverbände, die Maritime Einsatzgruppe 1 und die Minenabwehrgruppe 1 sind Teil von „Baltic Sentry“.

All die gesammelten Daten – auch die von zivilen Akteuren – fließen in ein einheitliches Lagebild ein. Die Daten treffen beim neu eingerichteten Commander Task Force Baltic in Rostock ein und werden dort ausgewertet. Wenn ein Schiff etwa mit einem ungewöhnlichen Schlingerkurs auffällt, bekommen die Einheiten von „Baltic Sentry“ den Auftrag, nachzusehen, was da los ist. So erzählt der Belgische Kommandant Erik Kockx, der die Ständige NATO-Minenabwehrgruppe 1 leitet und für Baltic Sentry in der Ostsee unterwegs ist, in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), dass er in den vergangenen Wochen mindestens sechs Vorfälle erlebt habe. Die Schiffe fielen auf, weil sie abrupt über Tiefseekabeln oder Pipelines stoppten. Kockx bekam den Auftrag hinzufahren. Allein das Auftauchen der Kriegsschiffe habe schon große Effekte gezeitigt, so Kockx. „Wenn sie die NATO-Boote sehen, ziehen sie sich schnell zurück“, berichtet der belgische Marineoffizier der NZZ.
Bis dato, also zwischen Januar und Mitte Mai, gab es keine durchtrennten Kabel mehr, keine ausgerauschten Anker. Offensichtlich wirkt die Präsenz von Militärschiffen und Flugzeugen abschreckend auf die Täter. Die NATO schreibt auf Anfrage von loyal, dass die Vorfälle mit verdächtigem Verhalten von Schiffen seit Anfang des Jahres massiv zurückgegangen seien. Ein weiterer Vorteil der Mission: Die teilnehmenden Staaten üben Kommunikationswege und gemeinsames Handeln ein. Das hat schon jetzt handfeste Effekte: Das Allied Maritime Command der NATO schreibt auf loyal-Anfrage, dass die Reaktionszeit bei einem verdächtigen Vorfall von 17 Stunden im vergangenen Jahr auf jetzt unter einer Stunde verkürzt worden sei.
Marine nicht das richtige Instrument
Alles gut also? Nein. „Das Militär, also die Marine, ist eigentlich nicht das richtige Instrument, um dauerhaft auf Sabotagefälle auf See zu reagieren“, sagt Julian Pawlak von der Universität der Bundeswehr in Hamburg. Eigentlich ist das Aufgabe von zivilen Akteuren wie den Küstenwachen. Aber: „Manche Staaten an der Ostsee haben starke Küstenwachen, andere setzen mehr auf ihre Marinen“, sagt Dr. Sebastian Bruns. Die Absprachen zwischen Küstenwachen und Marinen – noch dazu zwischen verschiedenen Ländern – seien in der Vergangenheit oftmals schwierig gewesen, so Bruns. Siehe Deutschland: Hier sind die Zuständigkeiten für die Sicherheit auf See besonders zersplittert. Wenn ein Schiff der russischen Schattenflotte in deutschen Hoheitsgewässern seltsame Bewegungen macht, wer ist dann zuständig? Der Zoll? Die Wasserschutzpolizei, die bei den Polizeien der Bundesländer angegliedert ist? Oder die Küstenwache des Bundes? Alle diese Akteure sind grundsätzlich für Verkehrskontrollen, Zollangelegenheiten oder die Koordinierung von Rettungsmaßnahmen zuständig. Pawlak begrüßt deshalb, dass es nach all den Vorkomnissen der vergangenen Jahre nun auch eine stärkere Kommunikation zwischen den Küstenwachen der Ostseeanlieger gibt. Denn die Marine müsse sich eigentlich auf die Landes- und Bündnisverteidigung konzentrieren. Und das ist schon schwer genug: „Wir haben im Moment die kleinste Marine seit Gründung der Bundeswehr“, sagt er.
Außerdem ist da noch ein anderes riesiges Problem: Die russische Schattenflotte. Mit einer Flotte an maroden Tankern umgeht Russland die westlichen Sanktionen auf ihren Ölverkauf. Etwa 400 Schiffe, die oft unter der Flagge von kleinen, exotischen Ländern fahren, transportieren Tausende Tonnen russisches Öl zu ihren Käufern – meist nach China oder Indien. 30 Prozent der russischen Rohölexporte reisen so mit den Schattentankern von den russischen Ostseehäfen Ust-Luga und Primorsk nach Fernost. Für das russische Staatssäckel sind diese Einnahmen enorm wichtig. Gut zehn Prozent der russischen Staatseinnahmen werden mit den illegalen Ausfuhren über die Ostsee erzielt. Das Morden in der Ukraine, der Beschuss von Zivilisten – das alles wird auch mit der Schattenflotte finanziert. Was also tun? Die Ostseeanrainerländer, außer Russland alle Mitglieder der NATO, können diese Schiffe nicht einfach stoppen. Das verbietet das internationale Seerecht.
Sie sind aber auch nicht hilflos – vor allem nicht, wenn ihnen der Zufall in die Hände spielt. So war es im Januar dieses Jahres. Am Abend des 9. Januar ging ein Notruf im Havariekommando in Cuxhaven ein. Ein Tanker trieb steuerlos in der Ostsee, seine Steuerungssysteme waren ausgefallen. Es war die „Eventin“, ein maroder Tanker, der auf der Sanktionsliste der Europäer steht. An Bord befanden sich knapp 100.000 Tonnen russisches Öl. Da die Gefahr bestand, dass das Öl ausläuft und eine gewaltige Naturkatastrophe auslöst, zogen Schlepper des Havariekommandos die „Eventin“ vor den Hafen von Sassnitz auf Rügen. Und hier griff nun deutsches Recht. Der deutsche Zoll beschlagnahmte im Februar das Schiff samt Ladung. Der Vorwurf: Schmuggel und Verstoß gegen Sanktionen. Das ist ein erheblicher Schlag gegen die russische Regierung, denn die 100.000 Tonnen Öl haben einen Gegenwert von circa 40 Millionen Euro.
Die „Eventin“ liegt heute immer noch vor Rügen. Die Eigentümer haben die Beschlagnahmung juristisch angefochten, die zuständigen Richter am Finanzgericht Greifswald werden über den Fall entscheiden müssen. Klar ist: So hart wie Deutschland ist noch kein Ostseeanrainerstaat gegen die russische Schattenflotte vorgegangen. Es ist ein Warnschuss und ein Zeichen, dass man sich nicht auf der Nase herumtanzen lässt. Das gilt auch für die Mission „Baltic Sentry“: Tankerbesatzungen werden es sich in Zukunft zweimal überlegen, ob sie dem Auftrag, ihren Anker über den Meerboden schleifen zu lassen, ausführen. Das Risiko, aufzufliegen und vor Gericht gestellt zu werden, ist größer geworden. Schiffseigner dürften kein Interesse an der Beschlagnahmung ihres Schiffes haben, weil sie das viel Geld kostet. Das Prinzip der Abschreckung – es wirkt beim Kampf gegen Sabotage in der Ostsee. Bisher jedenfalls.