Zeitenwende auf polnisch
Deutschlands Nachbar an der Ostflanke hat sich vorgenommen, mit sechs Divisionen die stärksten Landstreitkräfte Europas zu rüsten. Wie geht der ambitionierte Plan voran?
Im Herzen Warschaus liegt ein Ort, der eindrücklich symbolisiert, warum Polen seine Streitkräfte massiv aufrüstet: das Grabmal des unbekannten Soldaten. Offen und verwundbar flackert dort eine Flamme, über der die Reste eines Säulengangs stehen. Die Trümmer sind alles, was vom Sächsischen Palais übrig geblieben ist, der einst prächtigsten Palastanlage in Polens Hauptstadt. Von dort aus führte der Generalstab die Armee, welche den neu gegründeten polnischen Staat nach dem Ersten Weltkrieg schützen sollte. Die Wehrmacht radierte das Pałac Saski aus, als sie Warschau 1944 dem Erdboden gleichmachte.
Heute präsentiert sich Warschau dem Besucher als Boomtown, satt an Boutiquen und trendigen Cafés. Seit zwei Dekaden wächst Polens Wirtschaft jährlich um fast vier Prozent. Doch das florierende Gemeinwesen sieht sich wieder essenziell bedroht – heute durch Putins Russland, dass die Ukraine überfallen hat und versucht, seine alte Einflusssphäre in Europa zurückzuerlangen.
Um sich gegen einen Angriff Russlands zu wappnen, will Polen bis 2035 das stärkste Heer Europas aufbauen: sechs kampfstarke Divisionen. Mit Luftwaffe und Marine alles in allem 300.000 Soldaten. Ist-Zahlen seiner Armeestärke gibt Polen nicht bekannt. Im vergangenen Jahr erreichte die Truppenstärke 216.000 Soldaten, so Schätzungen der NATO. Das liegt schon jetzt über der Zielgröße für die Bundeswehr für das Jahr 2032 – und diese wächst nicht, anders als die polnische Armee.
Vier Divisionen für die Nordostgrenze
Die Polen planen vier Divisionen für die Nordostgrenze zu Kaliningrad und dem russischen Aufmarschgebiet Belarus. Zwei im Westen als Reserve. Sollte die Ukraine an Russland fallen, müssten im Südosten noch weitere Großverbände aufgestellt werden. Diese Streitmacht soll ähnlich der Bundeswehr im Kalten Krieg eine wirksame Vorneverteidigung leisten, bis NATO-Verstärkungen eintreffen. Es gibt allerdings einen markanten Unterschied: Anstatt einer flexiblen Verzögerung mit einer Panzerarmee, setzen die Polen auf eine in die Tiefe gestaffelte Verteidigung mit Sperranlagen, bemannt mit einem Territorialheer und einem Feldheer mit massiver Feuerkraft. So sieht die Zielstruktur des Heeres ein Artilleriekorps vor, dass über 800 Raketenwerfer verfügt – das Doppelte des Bestands der US-Army. So soll möglichst jede Landnahme von Seiten Russlands verhindert werden. Anders als in Deutschland fürchten die Polen weniger den Krieg, sondern vielmehr eine erneute russische Fremdherrschaft.

Nur fünf Gehminuten vom Grabmal des unbekannten Soldaten entfernt, wird die Beschaffung für Polens künftige Armee organisiert. In einem unscheinbaren, grauen Bürobau hat die Rüstungsagentur der Streitkräfte ihren Sitz. Dort empfängt deren stellvertretender Leiter Oberst Robert Frommholz zum Gespräch. Der deutsche Name des Luftwaffenoffiziers ist kein Zufall: Frommholz‘ Vorfahren kamen einst aus dem Ruhrgebiet nach Polen, wie der Oberst erzählt. Der wichtigste Faktor für das Gelingen der ambitionierten Rüstungsagenda? Frommholz: „Meiner Ansicht nach ist der entscheidende Faktor für unsere konsequente Aufrüstung seit 2022 die Einheit aller politischen Lager. Das ‚Gesetz zur Verteidigung des Vaterlandes‘ wurde sowohl von den Regierungsparteien als auch von der Opposition unterstützt und verabschiedet.“
Dieses umfassende Gesetz ist die Grundlage für Polens Aufrüstung. Bemerkenswert: Es kam bereits im März 2022 ins polnische Parlament, unter der nationalkonservativen Vorgängerregierung. Das war nur einen Monat nach der russischen Invasion in der Ukraine und zeigt, dass die Arbeiten am Gesetz unabhängig davon bereits im Gange waren. Die Sechs-Divisionen-Armee ist keine abrupte Zeitenwende wie in Deutschland. Der Armeeausbau ist eine Verstärkung der polnischen Zeitwende, die schon seit einer Dekade läuft. Das Land reagierte bereits auf Russlands verdeckten Angriffskrieg im Donbass ab 2014 mit einer Heereserweiterung von drei auf vier Divisionen und dem Aufbau eines Territorialheeres.
„Gesetz zur Verteidigung des Vaterlandes“
Das neue „Gesetz zur Verteidigung des Vaterlandes“ legt fest, dass der Staat mindestens drei Prozent des BIP für Verteidigung ausgibt. Für die Rüstung, die darüber hinausgeht, wurde ein Fonds zur Unterstützung der Streitkräfte eingerichtet, der wie Deutschlands Sondervermögen den Spielraum für Beschaffungen erweitert. Die Hauptquellen des Fonds sind Darlehen und Anleihen, welche die staatliche Entwicklungsbank Bank Gospodarstwa Krajowego ausgibt, so das Finanzministerium in Warschau auf Anfrage von loyal. Daneben wird der Fonds aus diversen weiteren Quellen befüllt, darunter Einnahmen aus der Bereitstellung von Übungsplätzen für ausländische Streitkräfte, Spenden, Entschädigungen, Vertragsstrafen. In diesem Jahr soll der Fonds zusätzliche Mittel in Höhe von 1,7 Prozent des BIP generieren. 4,7 Prozent des BIP für Verteidigung sind Polens Ziel für dieses Jahr, das neue NATO-Ziel von fünf Prozent soll bereits 2026 erreicht werden. Allerdings ist der Unterstützungsfonds ein zweischneidiges Schwert: Kurzfristig erleichtert er Beschaffungen, doch langfristig belastet er den Wehretat. Denn die Tilgung der Verbindlichkeiten des Fonds soll hauptsächlich aus dem Verteidigungshaushalt erfolgen, so das Finanzministerium.

„Wir haben bisher 550 Milliarden Złoty (Anm. d. R.: 128 Milliarden Euro) in rund 450 Beschaffungsverträgen gebunden. Darüber hinaus sieht unsere staatliche Rüstungsholding PGZ noch einen erheblichen Investitionsbedarf zur Modernisierung der Produktionskapazitäten. Die Zahlen sind jedoch geheim“, so Oberst Frommholz. Die größte Herausforderung für die Rüstungsagentur ist aus seiner Sicht: „Die Beschaffung hat zugenommen, aber wir sind personell kaum gewachsen. Wir bewältigen die Rüstungsagenda mit etwa 600 Mitarbeitern, was nicht viel ist. Ich würde mir etwas mehr Verständnis von unseren Prüfern wünschen. In der jetzigen dynamischen Lage müssen Entscheidungen schnell getroffen werden.“ Zum Vergleich: Das Beschaffungsamt der Bundeswehr ist in den vergangenen Jahren von 9.000 auf 11.800 Mitarbeiter angewachsen.
Und so gehen die Polen bei ihrer Rüstung laut Frommholz vor: „Unser Ansatz ist es, so weit wie möglich polnische Ausrüstung zu beschaffen. Aufgrund unserer schnellen und umfangreichen Materiallieferungen an die Ukraine sind wir jedoch auch auf ausländische Kapazitäten angewiesen. Dies gilt beispielsweise für Panzer in ihrer Gesamtheit und teilweise für Haubitzen. Hier haben wir die Krab-Haubitze, ein hochwertiges Gerät, das in Polen hergestellt wird, dessen Produktionskapazitäten jedoch nicht ausreichen. Deshalb beschaffen wir selbstfahrende Haubitzen vom Typ K9 aus Südkorea mit einem umfassenden ‚Polonisierungskonzept‘. Alle Begleitfahrzeuge und Munitionslieferungen stammen jedoch aus polnischer Produktion.“
Chancen für Rüstungskooperation
Auch die deutsche Rüstungsindustrie spielt eine Rolle beim Ausbau der polnischen Armee. Ein prägnantes Beispiel ist laut Rüstungsorganisator Frommholz Polens zentraler Hersteller von Militär-LKWs Jelcz. Dessen Lastkraftwagen würden alle mit MTU-Motoren ausgestattet. Ein Bereich, in dem er Chancen für die deutsche Rüstungsindustrie sieht, sind Unterstützungsfahrzeuge. „Vor ein paar Monaten wurde uns der Pionierpanzer Kodiak von Rheinmetall präsentiert.“ Das größte noch offene Rüstvorhaben Polens mit Potenzial für Deutschland ist die Erneuerung der polnischen U-Boot-Waffe über das Orka-Programm. Frommholz: „Darüber wird in den polnischen Streitkräften diskutiert. Einige wollen ein taktisches U-Boot, das mit Torpedos bewaffnet ist. Andere sehen die Notwendigkeit eines U-Boots als Träger für Lenkwaffen. Der Generalstab analysiert derzeit, in welche Richtung es gehen soll.“

Bei einem wichtigen Waffensystem gibt es laut Oberst Frommholz Möglichkeiten für eine intensive polnisch-deutsche Kooperation:„Ich sehe großes Potenzial für eine Zusammenarbeit mit Deutschland beim Flugabwehrsystem Patriot. Ich könnte mir vorstellen, dass wir über die NATO-Beschaffungsagentur NSPA in die gemeinsame Beschaffung der in Deutschland produzierten Patriot-GMT-Munition einsteigen. Umgekehrt sind die polnischen Patriot-Einheiten mit dem Gefechtsführungssystem IBCS, das wahrscheinlich zum NATO-Standard werden wird, auf dem modernsten Stand. Es wäre sinnvoll, die Bundeswehr auf den polnischen Systemen zu schulen.“
Wie alle NATO-Streitkräfte steht Polen vor der Herausforderung, eine Drohnenrüstung aufzubauen. Rüstungsplaner Frommholz: „Die Drohnenbewaffnung mit ihren schnellen Innovationszyklen ist eine große Herausforderung für die traditionelle Beschaffung der Streitkräfte. Es hat keinen Sinn, Systeme auf Vorrat zu kaufen, weil sie schnell veralten. Ziel ist es, Konzepte zu entwickeln, wie die Streitkräfte Produktionskapazitäten für modernste und schnell abrufbare Systeme unter Vertrag nehmen können.“ Um die Drohnenbewaffnung voranzutreiben, wurde zum Jahresanfang im polnischen Generalstab eine Drohnen-Inspektion eingerichtet, die sich der Entwicklung von Beschaffungs- und Einsatzkonzepten widmet.
EU-Rahmen für strategische Produktion
Das größte strategische Problem sieht der Rüstungsplaner in der sicheren Versorgung der polnischen Rüstung mit kritischen Rohstoffen, insbesondere für die verlässliche Herstellung von Munition. „Wie wichtig das ist, sehen wir am Beispiel des Krieges in der Ukraine. Es geht nicht mehr um den Aufbau einer 30-Tage-Kampfreserve, sondern um die strategische Produktion für einen Zermürbungskrieg. Das kann nur im europäischen Rahmen gelöst werden.“

Um die Herausforderungen von Polens Streitkräfteausbau besser zu verstehen, treffen wir Marek Świerczyński im Warschauer Büro von Polityka Insight – einem Analyseunternehmen, das aus dem bekannten Nachrichtenmagazin Polityka hervorgegangen ist. Świerczyński ist Chefanalyst für Verteidigungsthemen und seit Jahrzehnten enger Beobachter der polnischen Sicherheitspolitik. „Nach meinen Informationen entsprechen die circa 550 Milliarden Złoty an bisherigen Verträgen 50 bis 60 Prozent des Rüstungsplans bis 2035. Der Plan wird jedoch kontinuierlich weiterentwickelt. Die nächste Etappe bis 2039, wird derzeit ausgearbeitet.“ Laut Świerczyński sind im Schnitt jedoch erst 15 bis 20 Prozent des neuen Materials zugelaufen. Polens Armee liegt damit immer noch unter dem Ausrüstungsstand, den sie vor Beginn des Ukraine-Kriegs hatte. Um die ukrainischen Streitkräfte zu unterstützen, hat ihr die polnische Armee fast 40 Prozent ihres Materials, wie zum Beispiel T-72-Panzer, übergeben.
Eine Hürde der umfassenden Hochrüstung: Polens Wirtschaft boomt seit Jahren, doch die Rüstungsindustrie ist ein Nachzügler. Marek Świerczyński: „Nach dem Ersten Weltkrieg begann Polen mit dem Aufbau eines Rüstungsclusters im Zentrum des Landes. Während der Zeit des Warschauer Paktes wurde dieser kaum modernisiert. Bis vor kurzem gab es beispielsweise noch Maschinen aus dem frühen 20. Jahrhundert, um Artilleriegranaten herzustellen. Daher haben wir jetzt in vielen Bereichen einen enormen Investitionsbedarf in neue Produktionstechnologien und -anlagen.“ Die Umsetzbarkeit der Rüstungsagenda ist laut Świerczyński schwer zu beurteilen. „Unter der früheren PIS-Regierung wurde die Rüstungsagenda – der sogenannte technische Modernisierungsplan – streng geheim. Die Öffentlichkeit weiß fast nichts darüber. Eine umfassende Prüfung der Machbarkeit steht bis heute aus. Wir lernen somit auf Fall zu Fall Basis, was geht, und was nicht.“
Wo die Modernisierung der polnischen Rüstungsproduktion gute Fortschritte macht, ist im wichtigen Bereich der Schützenpanzer. Der Borsuk (zu Deutsch: Dachs), den Polens Heer erhält, ist eines der modernsten Systeme weltweit. Achtzig Prozent des Fahrzeugs wurden von der polnischen Industrie entwickelt, sogar die zentrale Turm-Technologie. Świerczyński: „Der Hersteller Huta Stalowa Wola ist dabei, moderne Produktionsanlagen zu errichten, die zum Teil vollautomatisch mit Robotern arbeiten.“
Probleme bei der „Polonisierung“
Durchwachsen sieht die Lage im Feld der „Polonisierung“ aus. Hier beschafft Polen Hauptwaffensysteme in Südkorea, später soll es Technologietransfer geben und die Produktion in Polen erfolgen. Verteidigungsexperte Świerczyński: „Das Hauptproblem der ‚Polonisierung‘ ist folgendes: Der vorherige Verteidigungsminister Błaszczak hat schnell viele Rahmenverträge abgeschlossen, ohne vorher die Industrie zu konsultieren, was sie liefern kann. Das beste Beispiel ist der K2-Panzer-Deal. Der erste Schritt hat funktioniert: Südkorea liefert schnell die ersten Panzer aus. Aber der zweite Schritt ist kompliziert. Die Verhandlungen erweisen sich als schwierig. Es wird deutlich, dass die polnische Industrie heute nicht in der Lage ist, eine polnische Version des K2 in Bezug auf Technologie und Produktionsanlagen herzustellen. Und die koreanische Seite ist nicht so sehr gewillt, ihr Know-how in den Verhandlungen preiszugeben, nachdem sie dieses riesige Paketgeschäft so schnell und einfach bekommen hat. Normalerweise muss man zehn Jahre lang Lobbyarbeit betreiben, um so etwas zu erreichen.“ Um eine Industrie für den modernen Panzerbau zu befähigen, braucht es langjährige Investitionen zur technologischen Befähigung, wie das Beispiel der Türkei zeigt. Die begann bereits 2008 eine Kooperation mit Südkorea, um auf Basis des K2 ihren Kampfpanzer „Altay“ zu entwickeln. Eine umfassende Produktion des „Altay“ gibt es bis heute nicht. Im vergangenen Jahr zeigte der polnische Fachjournalist Tomasz Dmitruk auf seinem Blog „DziennikZbrojny“, dass die Kampfwertsteigerung von Polens Leopard-2 A4 durch die polnische Industrie schlecht läuft. Die Auslieferungen liegen sechs Jahre hinter dem Ursprungsplan zurück, samt einer Kostensteigerung von 54 Prozent.

Besser läuft es bei einem anderen Schwerpunkt der polnischen Rüstung – dem Aufbau einer starken Raketenartillerie. Weitreichendes Feuer mittels Lenkwaffen gilt als zentrale Waffenkategorie moderner Streitkräfte. Hierfür beschafft Polen das System K239 Chunmoo des südkoreanischen Unternehmens Hanwha. Świerczyński: „Es gibt einen kohärenten, modularen Ansatz. Hanwha liefert die Raketenstartmodule. Diese werden in Polen auf ein polnisches Jelcz-Fahrgestell montiert. So wurden bereits 90 Feuereinheiten geliefert. Seit Kurzem gibt es auch einen Vertrag zur Raketenproduktion in Polen.“ Allerdings stockt die Rüstung auf dem zweiten Ausbaupfad über die USA. Polen wollte ursprünglich auch 500 HIMARs Raketenwerfer beschaffen. Laut Świerczyński kommen die Verhandlungen mit Produzent Lockheed Martin nur langsam voran.
Eine Herausforderung für Polens Rüstung wird die angestrebte Diversifizierung. Bisher lautet Polens Verteidigungsstrategie, Aufbau eigener Stärke und eine maximale Anlehnung an die USA, der man sich als Premium-Partner in der NATO präsentiert. Zum Beispiel hat die polnische Armee eigens eine Logistikeinheit aufgestellt, die den Betrieb des zentralen Materiallagers der US-Army in Polen bei Powidz sichert. Mit der Ansage der Regierung Trump, dass die Europäer ihre Verteidigung selbst stemmen sollen, will die polnische Regierung die starke Anlehnung an die USA nicht aufgeben, aber durch europäische Gemeinschaftsbeschaffungen ergänzen. So gehört Polen zum neuen Rüstungsbündnis, das die fünf wichtigsten Militärmächte Europas als Reaktion auf Trumps Wahlsieg gegründet haben – die „European Five E5“ mit Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien. Zudem ist Polen darauf erpicht, die hohen Finanzierungskosten seiner Intensivrüstung abzufedern, indem es möglichst viele EU-Mittel dafür generiert. Dazu Świerczyński: „Multilaterale Aufrüstung ist für Polen etwas Neues. Das ist aber auch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass 95 Prozent der Aufträge für die polnische Rüstungsindustrie vom Verteidigungsministerium kommen. Bisher hat sich Polen nicht offensiv um multilaterale Rüstung bemüht. Wir haben versucht, unsere eigene Ausrüstung herzustellen, oder sie von den Vereinigten Staaten, Südkorea oder anderswo gekauft. Es gibt ein paar Kooperationsabkommen, zum Beispiel mit dem Vereinigten Königreich im Bereich der Luftverteidigung, aber diese kamen nur zustande, weil aktiv von außen um uns geworben wurde.“

Eifrig debattiert wird in Polen zudem die Frage, ob sich eine Streitkraft von 300.000 Soldaten personell befüllen und halten lässt. Ein gewichtiges Argument der Zweifler: Polens Geburtenrate ist seit Jahren im freien Fall. Sie ist mit 1,2 Geburten je Frau eine der niedrigsten in der EU. Parallel dazu verlangt die brummende Wirtschaft stetig nach Arbeitskräften. Hinzu kommt: Zurzeit steht eine stärkere Militarisierung der Gesellschaft in der öffentlichen Debatte außer Frage. Doch ob das so bleibt, ist nicht ausgemacht. „Es ist schwer zu sagen, ob Polen sechs Divisionen aufstellen kann. Eine jüngste Umfrage zeigt, dass nur ein geringer Teil von 26 Prozent der Bevölkerung bereit ist, eine militärische Ausbildung zu absolvieren. Hinzu kommt, dass die Mehrheit der starken Befürworter der Aufrüstungsagenda zur Altersgruppe, der über 40-Jährigen gehört“, so Verteidigungsexperte Świerczyński.
Ziel sind 1.000 zusätzliche Panzer
Sein Ausblick auf Polens Rüstungsagenda: „Ich denke, wir werden bald eine große Veränderung bei der Beschaffung von Panzern erleben. In welche Richtung? Ich weiß es nicht. Die USA sind eindeutig daran interessiert, uns mehr Abrams-Panzer zu verkaufen. Aber der Bedarf in Polen ist enorm. Das Ziel für die sechs Divisionen sind 1.000 zusätzliche Panzer. Bislang haben wir 180 aus Südkorea erhalten, weitere 180 sind bestellt. Aber es fehlen immer noch 600 Panzer. Was die südkoreanischen Panzerhaubitzen vom Typ K9 betrifft, so spricht niemand mehr von einer Produktion in Polen. Der Ausbau der Luftwaffe mit K-50-Kampfjets aus Südkorea verzögert sich, weil die USA nicht bereit sind, die Radartechnologie freizugeben. Spätestens für die nächste Regierung wird die Frage der Rüstungskosten zum Problem. Denn die hohen Unterhaltskosten des Materials werden sich zunehmend bemerkbar machen.“

Als Ballast für Polens Streitkräfteausbau könnte sich auch die weitere Polarisierung der Staatsführung erweisen. Die jüngsten Präsidentschaftswahlen gewann Karol Nawrocki, Kandidat der nationalistischen Oppositionspartei PIS. Bereits der PIS-nahe, scheidende Präsident, Andrzej Duda liefert sich mit der liberal-konservativen Regierung einen Kleinkrieg.
Sein Veto gegen Gesetzesvorlagen kann die Regierungskoalition von Premier Donald Tusk nicht aufheben, da ihr dafür die nötige Drei-Fünftel-Mehrheit im Parlament fehlt. Bei der Sicherheitspolitik „eigener Stärke“ plus US-Anlehnung besteht Konsens in Polens Politik. Doch die Verteidigung ist in Polen Politikfeld ersten Ranges, auf dem sich jeder politische Akteur profilieren muss. Eine feindliche Einstellung zu EU-Kommission und Deutschland gehört zum Markenkern der PIS. Dass der zukünftige Präsident aus dem PIS-Lager die von der Regierung angestrebte europäische Rüstung konstruktiv begleiten wird, ist zweifelhaft.
Nawrocki will Kleinkrieg fortsetzen
Polen hat qua Verfassung ein konfliktträchtiges Duopol in der Außen- und Sicherheitspolitik. Bei deren Gestaltung sollen Regierung und Präsident laut Konstitution „kooperieren“. Die Regierung hat den Lead, doch der Präsident hat die starke Stellung eines Wächters. Er ist formal Oberbefehlshaber der Streitkräfte; ein Amt, dass er im Kriegsfall auch exekutiert. Der Präsident ernennt hohe Offiziere und steht dem Nationalen Sicherheitsrat vor, über den er eigene Konzepte und Gesetze zur Sicherheitspolitik vorschlägt. Noch-Präsident Andrzej Duda zauberte einst eine Marinestrategie aus dem Hut, um sich als Fürsprecher der stiefmütterlich behandelten Teilstreitkraft zu profilieren. In jüngster Zeit machte er Vorstöße zur Stationierung von Atomwaffen in Polen, die mit der Regierung nicht abgestimmt waren. 2018 blockierte er ein halbes Jahr lang die Ernennung von Generälen. Grund war ein Streit mit dem damaligen PIS-Verteidigungsminister über die Armeestruktur. Zu deren Umbau machte Duda im vergangenen Jahr den sinnvollen Vorschlag, ein gemeinsames Führungskommando der Armee schaffen. Die Regierungskoalition von Premier Tusk ließ den Vorstoß liegen. Sie setzte darauf, die nötige Reform der Führungsstruktur bald mit einem Präsidenten aus ihrem Lager angehen zu können. Präsident in spe Karol Nawrocki macht deutlich, dass er den Kleinkrieg seines Vorgängers mit der Regierung fortsetzen will. Sogar vor den Augen des US-amerikanischen Sicherheitsgaranten, direkt in Washington. Nawrocki äußerte auf der Social-Media-Plattform X, er werde Bogdan Klich, den Leiter von Polens Botschaft in Washington, keinesfalls zum Botschafter ernennen; dieser sei Trump-feindlich. Klich ist nur Leiter der diplomatischen Vertretung, weil seine Ernennung zum Botschafter bereits von Duda blockiert wurde.